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An Johann Jacob von Willemer
Noch ehe ich Ihnen, theurer alter Freund, ein Wort des gefühltesten Dankes zu sagen mich entschließen konnte, erscheint schon ein Brief von Ihnen an meine gute Frau, der mich so sehr erfreut als das was sie mir mündlich und schriftlich mitbrachte. Nehmen Sie den aufrichtigsten Dank für das viele Gute, das Sie den Meinigen erzeigt, und für jeden Antheil, den Sie an uns nehmen. Wie sehr wünschte ich einige Zeit mit Ihnen zu verleben, theils um mich früherer Jahre zu erinnern, theils um mich über manche Resultate des Lebens mit Ihnen zu besprechen. Ich begreife recht wohl, daß Sie bey allen Gütern, [238] womit das Glück Die begünstigt hat, sich doch manchmal in einer peinlichen Lage befinden, die aber nach meiner Einsicht blos von einem unvollendeten Strebern herkommt. Diejenigen Menschen die nichts weiter verlangen als dasjenige, was Welt und Natur gleichsam von selbst geben, sind am besten dran und gewinnen meistens den Vorsprung vor denen, welche Forderungen einer höheren Bildung an sich und andere machen, und welchen der Vorgeschmack höhere Genüsse in ihr Inneres eingepflanzt ist. Dergleichen Anlagen völlig fertig auszubilden, zu wissen was wir selbst sollen und vermögen, und was wir von unsern Umgebungen erwarten können, darüber geht meistentheils das Leben hin und man darf wohl sagen, daß der isolirte Mensch hier niemals zum Ziele gelangt; ja sogar wenn er auch so glücklich wäre mit gleichgesinnten zu wirken, so wird er sich doch nur dem Unerreichbaren immer mehr und mehr anzunähern scheinen. Doch wie mag man über solche Hauptpunkte schreiben, da Gespräche darüber allein erquicklich und fördernd seyn können. Leben Sie recht wohl und gedenken unsrer mit den lieben Ihrigen.
Weimar, den 5. December 1808.
J. W. v. Goethe. [239]