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An Carl Gustav Carus

Ew. Wohlgeboren

nur allzukurzer Besuch hat mir eine tiefe Sehnsucht zurückgelassen, ich habe mich die Zeit her gar oft mit Ihnen im Stillen unterhalten und Ihre Reise in Gedanken begleitet, überzeugt, daß schöne Früchte zu erwarten seyen und zwar nicht späte, sondern unmittelbare, indem Sie, sammelnd und erwerbend, allsobald zu ordnen wissen.

Wir leben in einer Zeit, die wahre Naturansicht vorbereitet sich zwar immer mehr, das Wunderliche jedoch ist dabey, daß die Mitarbeiter sich als Rivale zeigen und wenige recht begreifen, daß, um etwas zu seyn, man einem großen Ganzen angehören müsse.

[233] Die übersendeten zwey Tafeln sind mir sehr werth; ich sehe, daß Sie die Abtheilung in sechs Schädelknochen mit Nummern bezeichnen und durch hinzugefügte Buchstaben auf die Übereinstimmung hindeuten.

Wie traurig, schrecklich, sinneverwirrend ist gegen diesen einfachen Vortrag das colossale, in gleicher Maaße verunglückte Spixische Werk, welches die alte Wahrheit wieder zu Tage bringt, daß man mit fremden Gute nicht so bequem, fruchtbar und glücklich gebahre als mit eignem.

Wenn ich nun schon, Ihre Tafeln betrachtend, meine eigene Überzeugung darin zu sehen glaube, so wünscht ich doch, Sie übersendeten mir gefällig die Worterklärung dazu, damit ich sicher wisse, daß meine Auslegung mit der Ihrigen übereintrifft; ich muß dieser Angelegenheit in dem vierten Hefte der Morphologie, woran eben jetzt gedruckt wird, nothwendig gedenken, da möcht ich mich denn am liebsten in völliger Übereinstimmung mit Ihnen ausdrucken.

Wollten Sie ferner auch von dem Werke selbst über das Schalen– und Knochengerüst kürzlich mittheilen was Sie allenfalls zur Kenntniß des Publicums zu bringen geneigt wären, so würde solcher Anzeige gern eine schickliche Stelle anweisen.

Bey Gelegenheit der trefflichen Arbeiten d'Altons, deren zweytes Heft, die Pachydermata enthaltend, eben vor mir liegt, werd ich einiges zu äußern haben.[234] Solche Bemühungen müssen freylich Bewunderung und Erstaunen erregen und alles was in uns stockt zu Tage bringen.

Schließlich aber bekenne gern, daß es mir sehr angenehm seyn wird, Ihren Aufsatz über die landschaftlichen Bilder zu lesen. In meiner Kupferstichsammlung habe diesem Capitel eine große Breite erlaubt und besitze sehr viel erfreulich Belehrendes von der Zeit an, wo die Landschafts-Mahlerey sich mit der geschichtlichen erst in's Gleichgewicht setze, dann sich von ihr loslös'te, aber noch immer dichterisch blieb, bis sie in der neuen Zeit, nach dem Durchgang durch eine gewisse Manier, sich zu wirklichen Ansichten beynahe ausschließlich herangibt.

Wie sehr Sie ein Recht haben, über diese Gegenstände zu sprechen, beweisen Ihre eigenen Arbeiten, die noch täglich mir und meinem Sohn viel Freude machen, denn ich, als einem Höhelustigen, das Brockenhaus abtreten mußte.

Von Zeit zu Zeit würde und eine Sendung dieser Art sehr erfreuen, sie sollte ungesäumt zurückkehren; für's Porto ist diesseits gesorgt.

treulich theilnehmend

Weimar den 13. Januar 1822.

J. W. v. Goethe. [235]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1822. An Carl Gustav Carus. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-98FC-3