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An Carl Friedrich Zelter

Gestern Abend habe ich wahrhafte Angst für dich empfunden, indem ich bey Revision deiner Briefe mit[70] Riemern die verwegen-gefährliche Fahrt nach Swinemünde wieder aufnahm und durchdachte. Es ist wunderbar daß uns eine längst vorübergegangene Gefahr in ihrer eigenen Gestalt weit größer und wahrhafter erscheint, als wenn wir von derselben, indem sie erst vorüber ist, benachrichtigt werden; denn da stemmt sich wie im Unglück selbst der Geist entgegen, strebt ihren Eindruck zu vermindern, wo denn die Freude der Rettung das ihrige leidenschaftlich dazuthut. Später ist alles anders, denn wir haben Muth das Ungeheure anzuschauen, aber eben deshalb wächst es in der Vorstellung zu seiner wahrhaften Größe.

Deine Relation von dem Abstecher nach Petersburg ward mit vielem Dank aufgenommen; unsere Hofdamen, die das Modell an Ort und Stelle gesehen hatten, erzählten davon, doch nur vorübergänglich. Seitdem das große Unglück die schlechte Lage dieser ungeheuren Stadt erst recht zur Evidenz brachte, bin ich genöthigt, bey jedem tiefen Barometerstand, besonders Nachts wenn der Sturm in meine Fichten braust, an jene Localität zu denken.

Wenn die Menschen aus Noth, wie die Venetianer, sich in den Sumpf setzen, oder aus Zufall an dem ungeschicktesten Ort sich ansiedeln, wie die ersten Römer, so mag das hingehen; aber so von heiler Haut, wie der große Kaiser, das Ungeschickte thun, zu der Seinigen unheilbaren Verderben, ist doch eine gar zu traurige Äußerung des absolut- [71] monarchischen Princips. – Ein alter Fischer soll ihm vorausgesagt haben daß dahin keine Stadt gehöre.

Wenn ich ihn entschuldigen will, so muß ich sagen: daß das große Original-Genie auch durch eine Anwandlung von Nachahmung ist verführt worden. Er hatte Amsterdam und das holländische Deichwesen im Sinne, ohne zu sehen daß es hierher gar nicht passe. Die Holländer selbst begingen den Fehler bey der Anlage von Batavien und bildeten sich ein, man lebe eben so ungestraft im Sumpfe unter der heißen Zone als in der kühlen und kalten.

Nun zu etwas Lustigern! Da du doch auf's Französische eingerichtet bist, so rathe ich zu lesen, wenn es noch nicht geschehen wäre: Le Théâtre de Clara Gazul, Poésies de Béranger. An beiden wirst du auf's klarste erkennen was Talent, um nicht zu sagen Genie, vermag, wenn es in einem prägnanten Zeitpunct auftritt und gar keine Rücksicht nimmt. Haben wir ja ohngefähr auch so begonnen.

Diese Tage her war ich in Frucht, es möge deinen am 21. Februar abgesendeten Fischchen ergehen wie einer verspäteten Schlittenfahrt: Die Kälte war aufgehoben, der Westwind stürmte, eine Schneeschicht nach der andern thaute weg; allein gestern sind sie glücklich angekommen, völlig gesund und genießbar. Empfange daher den allerschönsten Dank! Diese seltene Speise wird nächste Woche Veranlassung seyn zu einigen Gastgeboten.

[72] Eine gar löbliche Relation über Ternite's Pompejana liegt zum Druck bereit zugleich werden wir seines Fiesole mit Ehren gedenken. Meyer kennt das Bild sehr wohl von Florenz her. Freylich muß man jenes irdische Leben in den Augen etwas verklingen lassen, wenn dieses himmlische einigen Eindruck machen soll; denn, Gott sey Dank! wir haben uns vom Pfaffthum eben so weit entfernt als der Natur wieder genähert. Diesem unschätzbaren Vortheil können und dürfen wir nicht entsagen.

Aus Herrn v. Müfflings Reden glaubte ich schließen zu können, daß diese Gemälde noch Herrn Ternite eigen wären, nicht etwa dem König oder einer öffentlichen Anstalt. Ließe er mir für Geld und gute Worte wohl einige davon ab? Ich würde mir die Gesellschaft der drey Frauen, die Gesellschaft der drey Frauen, die Geschwister auf dem Hellespont, Narciß, neben ihm die Nymphe mit dem Kränzchen (wahr scheinlich Echo) vorerst ausbitten. Wenn unsre Recension gedruckt steht, so wünschte doch vorübergehenden Fremden und bleibenden Einheimischen etwas zu unsrer Legitimation vorzuweisen; es wären schöne zur Aldobrandinischen Hochzeit. Seit dem Charon ist mir zwar schon manches Gute dieser Art in's Haus gekommen, doch möchte ich's gern vermehrt sehen, weil ich wahrscheinlich das laufende Jahr in dieser Umgebung verweile.

Grüße Doris zum schönsten und danke ihr für die Küchensorge. Möge euch beiden der Umzug mit gutem [73] Muth und ungetrübter Gesundheit gelingen und ihr sodann eines bequemen froh-thätigen Zustandes genießen!

Weimar d. 2. März 1827.

G.


Nachträglich will ich den Wunsch aussprechen: du mögest mein Verlangen gegen Ternite, nach den drey pompejanischen Zeichnungen, nicht entschieden aussprechen, sondern erst horchen ob er es gerne thäte; denn ich wollte nicht, daß er aus Gefälligkeit oder irgend einer Rücksicht in etwas einwilligte was ihm unangenehm wäre.

Weimar den 3. März 1827.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1827. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9914-E