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An Heinrich Carl Abraham Eichstädt

Die Theilnahme des Herrn Bernhardi an unserm Institute ist von solcher Bedeutung, daß ich sehr wünsche, man möchte sich auch über den gegenwärtigen Fall vereinigen. Ich theile nur im Allgemeinen und wie die Stunde mich drängt, aus dem Stegreif meine Gedanken mit.

Jeder Dichter baut sein Werk aus Elementen zusammen, die freylich der Eine organischer zu verflechten vermag, als der Andere, doch kommt es auch viel auf den Beschauer an, von welcher Maxime dieser ausgeht. Ist er zur Trennung geneigt, so zerstört er mehr oder weniger die Einheit, welche der Künstler zu erringen strebt; mag er lieber verbinden, so hilft er dem Künstler nach und vollendet gleichsam dessen Absicht.

Man kann in Raphaelischen Frescogemälden zeigen, wie sie theilweise ausgeführt worden, wie die Arbeit dem Künstler einen Tag besser gelang, als den andern; dazu muß man aber das Bild ganz nah untersuchen, [196] und jedes Bild will doch aus einiger Ferne genossen seyn.

Wenn gewisse mechanische Behandlungsweise, wie Kupferstiche und Mosaik, in der Nähe vor dem Auge sich in ihre technische Atome zerlegen, so fallen die höchsten Kunstwerke, Odyssee und Ilias, vor dem Scharfblick eines trennenden Kritikers auseinander. Ja, wer wird läugnen, daß selbst Sophokles manchmal seine Purpurgewänder mit weißem Zwirn zusammengenäht habe.

Das alles soll nur soviel andeuten, daß der Dichter, besonders der moderne, der lebende, Anspruch an die Neigung des Lesers, des Beurtheilers machen und voraussetzen darf, daß man constructiv mit ihm verfahre und nicht durch eine disjunctive Methode ein zartes, vielleicht schwaches Gewebe zerreiße oder den etwa schon vorhandenen Riß vergrößere.

Herr Bernhardi scheint die Härte seiner trefflichen Bemerkungen selbst zu fühlen, indem er sagt: manches scheint hier hart, weil das individuell bindende Princip nicht ausführen kann, weil die Verhältniße fehlen zur absoluten Kunst etc.; ferner: bey dem edlen Dichter erscheint Disharmonie als irdische Bedingung einer schönen Natur, als Menschliche Schwäche einer edlen Seele, als negatives Glied eines schönen Gegensatzes.

Könnte Herr Bernhardi bey Beurtheilung der Werke unseres Freundes von diesen lebendigen und[197] belebende Principien ausgehn, könnte er bey der Behandlung mit billiger Milde verfahren, so brauchte nichts von den Gesinnungen und Überzeugungen verschwiegen zu werden und das Resultat müßte dem Dichter, seinen Freunden und dem Publicum höchst erwünscht seyn.

Noch eins! Bey strenger Prüfung meines eignen und fremden Ganges im Leben und Kunst fand ich oft, daß das, was man mit Recht ein falsches Streben nennen kann, für das Individuum ein ganz unentbehrlicher Umweg zum Ziele sey. Jede Rückkehr vom Irrthum bildet mächtig den Menschen im einzelnen und Ganzen aus, so daß man wohl begreifen kann, wie dem Herzensforscher ein reuiger Sünder lieber seyn kann, als neunundneunzig Gerechte. Ja, man strebt oft mit Bewußtseyn zu einem scheinbar falschen Ziel, wie der Fährmann gegen den Fluß arbeitet, da ihm doch nur darum zu thun ist gerade auf dem entgegengesetzten Ufer anzulanden.

Wie man endlich unserm Dichter durchaus die Lieblichkeit absprechen könne, will mir nicht zu Sinne. Sollte nicht z.B. im Wallenstein sich das Verhältniß zwischen Max und Thekla und was daher entspringt in hoher, wünschenswerther Anmuth darstellen?

Freylich müßte es erst recht erfreulich und belehrend seyn, sich mit einem Mann wie Herrn Bernhardi über unsere literarische Angelegenheiten mündlich ausführlich zu unterhalten; alsdann würde das, was in [198] aphoristische schriftliche Wechselerklärung streng, hart und einseitig erscheint, sich bald in lebhafte Schätzung der unbedingten Kunst und in milde Würdigung des bedingten dichterischen Individuums auflösen.

Jena den 15. September 1804.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1804. An Heinrich Carl Abraham Eichstädt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-995D-C