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An Leopoldine Grustner von Grusdorf

Die übersendeten Umrisse zeugen, meine Theuerste, von einem schönen und natürlichen Talent für bildende Kunst. Die Weimarischen theilnehmenden Freunde wünschen Ihnen Glück einen so trefflichen Lehrer gefunden zu haben der Ihnen nur nachahmenswerthe, den Sinn reinigende und erhöhende Blätter vorlegt. Gehorchen Sie ihm in allem, er wird Sie, wie jetzt durch die Gesichtszüge, auch die übrigen Glieder der menschlichen Gestalt durchführen, Sie auf die Bestimmung der einzelnen, ihre Proportion und wechselseitige Einwirkung treulich aufmerksam machen. Das Äußere prägen Sie sich ein, das Innere lernen Sie[107] nach und nach kennen. Alsdann wird er Sie auf das was ein Bild macht, geregelte faßliche Composition, Licht, Schatten, Haltung und zuletzt auf die Farbe hinleiten. Wenden Sie stufenweis Ihre Zeit eifrigst auf dieses ernste Studium.

Die Sie aber einen lebhaften Drang fühlen dasjenige was Ihnen in der sichtbaren Welt begegnet nachzubilden, so bitte ich Sie inständig sich nur an das Bewegte, Thätige, Kräftige und Wirksame zu halten. Um mich verständlich zu machen geh' ich schnell zu Beyspielen: Sehen Sie den Kindern aufmerksam zu, wenn diese nun im Frühjahr ihre Spiele beginnen, es sey nun daß sie Ball werfen und schlagen, den Kreisel peitschen, den Reiftreiben, auf Stelzen gehen, sich überschlagen und wozu sie sonst die Überfülle unausgebildeter Kräfte muthwillig verschwenden. Heften Sie ferner Ihre Augen auf solche Handwerker, welche kräftige tüchtige Bewegungen nachzubilden Anlaß geben; den Schmiedmeister, der seinen Gesellen um den Amboß herwirkend das Eisen bändigt. Lauern Sie ihm wie andern das Charakteristische des Geschäfts ab. Sind Sie zu ruhigern Betrachtungen geneigt, so sehen Sie auf dem Markte Verkäufern und Käufern zu, dort werden einem lebendig aufmerksamen, geistreichen Blick die anmuthigsten Motive sich entdecken.

Nun aber da ich Sie an die nächste Wirklichkeit hinweise, welche fast unwerth schiene von Ihnen nachgebildet zu werden, so sag ich noch: daß der Geist des [108] Wirklichen eigentlich das wahre Ideelle ist. Das unmittelbar sichtlich Sinnliche dürfen wir nicht verschmähen, sonst fahren wir ohne Ballast.

Und auch jenes Wirkliche sollen Sie nicht als gemein nachbliden. Was sich von dem menschlichen Körper nackt mit Anstand zeichnen läßt: Hals, Nacken, Brust, Arme, Schenkel, Füße müssen durch leichte Gewande mehr geziert als versteckt eine freyere Menschheit darstellen. Kinder halb und ganz nackend zu bringen, wird Ihnen nicht verwehrt seyn.

Legen Sie dieses alles Ihrem einsichtigen Meister vor, aber mit der Protestation, daß ich Sie keineswegs von dem ernsten reinen Wege auf dem er Sie führt hiedurch ablenken wolle, sondern daß es nur ein Fingerzeig sey, wie der ungeduldige Schüler einstweilen auf die natürlichste Weise sich beschäftigen und im Denken vorüber könne.

Wie Sie diese meine Vorschläge aufnehmen und sich von Brauchbarkeit derselben überzeugen, wünsche schriftlich, mehr aber bildlich ausgedruckt zu erfahren; wobey ich denn aber- und abermals wiederhole, daß der bildende Künstler sich zuerst an der kräftigen Wirklichkeit durchüben müsse, um das Ideelle daraus zu entwickeln, ja zum Religiosen endlich aufzusteigen.

Leider, meine Gute, muß das Papier auf einmal bringen was eine mündliche Unterhaltung nach und nach schicklicher mittheilte, erst prüfend wie das Gesehene [109] eingesehen und aufgekommen werde. Denken Sie dieß alles durch und melden Sie mir inwiefern Sie sich solches zueignen, oder ob es Ihnen widerstrebt. Vor und nach allem diesen Sie Ihren Meister zum schönsten und folgen ihm ausschließlich, da er Ihnen gewiß darbietet was Sie zunächst brauchen. Eröffnen Sie zunächst Ihre Gedanken hierüber und zeigen mir an, ob ich Ihre Zeichnungen gerade mit dem Postwagen zurückschicken soll.

aufrichtig theilnehmend

das Beste wünschend

Weinar den 30. März 1827.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1827. An Leopoldine Grustner von Grusdorf. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-996B-C