20/5639.

An Johann Friedrich Cotta

[Concept.]

Die vier Trauerspiele welche Sie mir zugesandt habe ich sogleich durchgesehen und kann darüber, wie [213] Sie wahrscheinlich schon selbst vermuthen, wenig Tröstliches vermelden. Ich begreife wohl, daß es eine milde Kritik giebt, die sich mit solchen Dingen befassen und sie mit Aufmerksamkeit würdig mag, für mich aber existiren sie gar nicht, und wären mir solche Manuscripte zufällig in die Hände gekommen, schon nach den ersten Seiten hätte ich sie aus der Hand gelegt.

Dießmal bin ich um Ihres Wunsches willen weiter gegangen und theile hierbey einige Betrachtungen mit. Alle vier deuten auf eine besondre Cultur, die jetzt in Deutschland, vorzüglich aber im nördlichen herrscht; man könnte sie die verständig-vernünftig-gemüthliche nennen. Dazu kommt noch eine gewisse Übung Stücke zu sehen, zu lesen, einiges Geschick einen Plan zu concipiren, und leidliche Verse zu machen; deswegen man denn auch solche Productionen, insofern man sie als Masken betrachtet, hinter denen ganz schätzenswerthe Individuen stecken, nicht durchaus schelten kann. In allen vier gegenwärtigen Stücken ist von tüchtiger Sinnlichkeit, blühender Phantasie, Erhebung des Herzens und Geistes und von so manchem andern, was zur Dichtkunst unerläßlich ist, die mindest mögliche Spur, ja die Nüchternheit dieser Hefte geht über allen Begriff.

Idmon ist ein abgetragenes griechisches Gewebe mit moderner Sentimentalität aufgemalt, und ein Hauptpunkt, das Eintreten Idmonds als Kämpfer für seinen Pflegevater, höchst schlecht motivirt.

[214] Seila völlig kraftlos und man begreift nicht, wie ein Menschenopfer in einer so zahmen Gesellschaft, die sich jeden Augenblick um den Theetisch setzen könnte, stattfinden kann.

Die Sühne der Enkel, gäbe ein ganz gutes Gespenster Märchen; aber als Schauspiel taugt es ganz und gar nichts. Die Schriftsteller dieses Gelichters begreifen nicht wo und wie etwas interessant ist und werden das Romanhafte vom Theatralischen nie unterscheiden lernen.

Im Simson ist noch das meiste Naturell. Es wird aber dadurch auch nichts geleistet und wenn man anfangen wollte theilweise zu loben, so würde man gleich wieder genöthigt theilweise zu tadeln.

Über dergleichen Dinge ist eigentlich gar nichts zu sagen: denn indem ächte Kunstwerke ihre eigene Theorie mit sich bringen, und uns den Maaßstab in die Hand geben, nach dem wir sie messen sollen; so thäte es bey solchen tappenden Versuchen halbgeübter Diletanten Noth, man stellte erst ein theorethisches Kunstmodell auf, an dem sich denn ihre Unzulässigkeit bald offenbaren würde.

Und so bin ich, was mich betrifft, der Überzeugung, daß keinem von diesen Stücken irgend eine Art von Preis gebühre: denn man kann sie, wenn man es streng nehmen will, in dramatischer, theatralischer und tragischer Hinsicht sämmtlich absurd nennen.

Soviel sage ich unter uns mit Aufrichtigkeit, mit[215] Bitte von diesen Äußerungen öffentlich keinen Gebrauch zu machen; denn warum soll man in diesem einzelnen Fall gegen das Mittelmäßige grausam seyn, da das Mittelmäßige bey uns so recht an der Tagesordnung ist, und immer mehr daran kommen muß, je mehr die mögliche Bildung übrigens völlig talentloser Menschen, von der ich oben gesprochen, ihrer Natur nach täglich mehr überhand nimmt. Indessen will ich die Stücke so lange hier behalten, sowie auch eine Abschrift des gegenwärtigen nehmen, ob sich vielleicht, Ihren Wünschen gemäß, in dieser Sache noch etwas thun ließe. Ich erwarte deshalb gefällige Antwort und danke zum schönsten für die überschickten Idyllen.

Abgesendet d. 14. Novbr. 1808.

[216]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1808. An Johann Friedrich Cotta. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-99A8-4