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An Carl Friedrich von Reinhard

Ihr festtägiger Brief, mein verehrter Freund, hat auch mir einen Festtag hervorgebracht. Ich mag mich gar zu gern durch Sie nach Paris versetzt sehen, das ich wohl in der Wirklichkeit schwerlich betreten werde. Übrigens haben wir alle Ursache unsere innern Familien- und Freundesfeyertage recht fromm zu begehen: denn was die öffentlichen Feyerlichkeiten betrifft, so theilt sich die Welt wirklich in eine Tages-und Nachtseite, und leider befinden wir uns auf der letzten.

Von meinem Befinden, an dem Sie so freundlich[454] Theil nehmen, will ich gleich voraussagen, daß es ganz leidlich ist, daß ich bey einer gleichen Diät mich in einem ziemlich gleichen Zustande erhalte, arbeiten kann und noch mehr thun würde, wenn ich nicht so zerstreut würde durch das Theater, das, als ein Repräsentant der Welt, die Rechte seines Urbildes behauptet, und durch Fremde, deren mehr oder weniger erwünschte Besuche einen lebhaften Reisezirkel durch mein Haus führen.

Das chromatische Geschäft, das mir durch Ihre gütige Theilnahme doppelt interessant wird, habe ich auch wieder angegriffen, aber noch kein Manuscript zum Druck befördert können. Nach der langen Pause, und nach unsern Unterhaltungen, komme ich an die Sache mit einer Frischheit des Blickes, die mich an dem vorgearbeiteten manches aussetzen läßt. Was zunächst zum Druck bestimmt was habe ich wieder umgearbeitet, und die Sache soll gewiß durch diesen neuen Ablauf gewinnen. Doch ist sowohl zum polemischen als zum historischen Theil manches studirt, gefunden und disponirt worden, daß wenn der Faden nur wieder einmal angedrillt ist, die Spule schon rasch wieder fortschnurren soll. Haben Sie tausend Dank für die Verwendung in dieser Sache, und zwar für den doppelt Vortheil, den Sie mir bringen; einmal, daß Sie etwas leisten und vorwärts führen, was ohne Sie nicht geschehen wäre; sodann, daß Sie mir eine Vorstellung, einen [455] Begriff von Zuständen geben, von denen ich wohl eine Ahndung aber keine Anschauung hatte. Da Ihre lebhafte Geschäftsthätigkeit durch jedes Hinderniß eine neue Anregung erhält, so entspringt uns gewiß zuletzt ein Resultat, das uns selbst überrascht. Schon das in einer Sache, die uns selbst beschäftigt, ist höchst bedeutend. Inwiefern Villers sich der Sache annehmen mag, wird sich zeigen, wenn er sich zeigen, wenn er sie näher kennen lernt. Ich meines Theils gestehe gern, daß ich, was die Ausbreitung dieser Lehre und Vorstellungsart in Frankreich und also auch in der übrigen Welt betrifft, nunmehr mein ganzes Vertrauen auf Sie setzte. Sie machen sich mit den Hauptpuncten gegenwärtig so bekannt, daß der polemische und historische Theil Ihnen in wenigen Wochen gleichfalls angehören wird, und daß Sie aus der Revision die bedeutenden Berichtigungen, Erläuterungen und Aufklärungen geschwind ergreifen und ins Ganze verarbeiten werden. Ich scheue mich gar nicht diese Hoffnung zu haben, vielmehr freue ich mich, daß Ihre Thätigkeit in der jetzigen Epoche einen Stoff, den Sie dessen würdig finden, mich selbst so sehr interessirt und uns beyde in lebhafter Verbindung erhält.

Wäre es möglich zu erfahren, was der Straßburger Gelehrte gewollt; es wäre hübsch, wenn man dem auch könnte Gerechtigkeit widerfahren lassen. [456] Denn ganz gewiß hat etwas partiell wahres seine Aufmerksamkeit erregt, das wahrscheinlich durch die Manier solches ans ganze anzuschließen, den Beurtheilern verwerflich vorgekommen ist. Ihrer Vermuthung wegen der couleurs complementaires des Hassenfratz muß ich beypflichten. Schon die Newtonianer erklären das Phänomen auf diesem Wege. Sie nehmen ad hunc actum drey Farben an: Gelb, Blau und Roth; und wenn eine davon das Auge trifft, so kommen die beyden übrigen gelaufen, um die Gesellschaft voll zu machen. Und doch ist auch schon auf diesem Wege die Tendenz nach Totalität ausgesprochen. Ich danke Ihnen zum voraus für alles das, was Sie durch Ihre Connexionen aus den akademischen Registern und Winkeln hervortreiben werden.

Die Connexion mit Archive litteraire ist von Bedeutung. Es steht ein Aufsatz darin über diejenigen, die wir Akyanobleponten nennen. Recht artig ist es, daß er auch auf die Frage getrieben wird, ob sie das Blaue roth, oder das Rothe blau sehen. Er ist von der letzten, eine kurze freundliche Gegenschrift aufsetzen, indem ich das, was ich zur Revision aufgespart hatte, dabey benutzte. Man dürfte nur das Dilemma sehr klar auseinandersetzen; nicht verhehelen auf welche Seite man sich neige; übrigens dem Leser die Freyheit der Wahl lassen und bey der Gelegenheit unser übrigens Farbenwesen durchblicken lassen.

[457] Wie Cuvier die Sache nehmen wird, kann nicht anders als von Bedeutung der organischen Natur nicht ganz günstig ist, und daß er da nur Zufälliges erblicken mag, wo wir Gesetzliches zu sehen glauben. Da nun diese Differenz in der Maxime unendlich ist, so kann man sich auch im Einzelnen, selbst wo man zusammentrifft, nicht vereinigen.

Jener andre Freund, der immer Observations und Expériences fordert, würde wohl schwelich zu überzeugen seyn, daß man den Kopf gerade mit Observations und Expériences zum besten haben kann. Uns so möchte man denn auch immerfort eine stille Schadenfreude nähern, daß die Herren des Continents immer noch vor dem übermeerischen insularen Gespenst eine solche tiefe ängstliche Scheu empfinden. Betrachtet man dieses alles, so wie auch die retardiren Berichte der Commissarien, das Zurücknehmen von Aufsätzen u.s.w. mit einem freyen und weltsinnigen Überblick; so sieht man denn doch in einen der beschränktesten, bedingtesten und wunderlichen Zustände hinein. Daß ich das aus der Ferne kann, dafür sey Ihnen wiederholt von Herzen Lob und Dank gebracht.

Hätte ich mit diesem Blatte nicht gezaudert und es in Weimar gelassen, so käme es früher in Ihre Hände, indem in diesen letzten Tagen die Communication unvermuthet lebhafter geworden. Doch hoffe [458] ich, es soll sich bald eine Gelegenheit finden, und so mögen denn meine besten Grüße und Wünsche zu Ihnen hinübergehen. Ich sitze hier auf den Trümmern von Jena und suche meine eigenen Trümmer zusammen. Ehe ich von polemischen und historischen Abtheilung des Farbenwesens gedruckt zu sehen. Noch einiges andre hoffe ich fertig und bey Seite zu kriegen und mich soviel als möglich einiger Thätigkeit zu freuen. Leben Sie recht wohl, gedenken Sie mein und lassen mich bald wieder etwas hören. Die Berufung unseres Johannes von Müller nach Paris und das Gerücht von seiner Anstellung im Königreiche Westphalen hat viel Sensation gemacht und den guten Deutschen einige Hoffnungen über ihren künftigen Zustand gegeben. Was mich betrifft, so mag ich gern erwarten ohne zu hoffen und bin schon zufrieden wenn ich meinen Tag leidlich und nicht ganz unnütz zubringe. Nochmals meine besten Wünsche aus dem stillsten Winkel Deutschlands in die lebhafte Hauptstadt des Erdbodens.

Jena den 16. November 1807.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1807. An Carl Friedrich von Reinhard. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9A0B-B