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An Joachim Dietrich Brandis

[Concept.]

[7. März.]

Ew. Hochwohlgebornen

haben mich durch Ihren werthen Brief auf das angenehmste überrascht. Wohl gedenk' ich noch jener Zeiten, wo das Werk über die Lebenskraft verfaßt, die Zoonomie übersetzt und die kleine Schrift über die Metamorphose der Pflanzen geschrieben wurde. Hätte sich jene Epoche aus sich selbst ausbilden können, so wäre viel Erfreuliches zu hoffen gewesen : denn gar manche Geister wirkten in Einem Sinne; aber es sollte nicht seyn. Eine abstractere Behandlungsart griff ein, der wir bis jetzt manches Gute schuldig sind, die aber auch zu manchem Misbrauch Gelegenheit gegeben hat. Die Zeit muß lehren, ob auf diese Weise die Naturwissenschaft zur Reise gedeihen kann.

Es freut mich gar sehr, daß Sie in dem, was ich zur Farbenlehre beytragen können, die frühere Denkweise wieder finden; und obgleich Ihre Darstellung meiner Intentionen nicht ganz mit diesen zusammenfällt, so hat dieses doch nicht zu sagen: denn eben deswegen habe ich auf dem, wie ich hoffe, befreyten und geebneten Raum die gewonnenen Materialien, die nicht mir sondern der Natur und allen Jahrhunderten angehören, so zu sondern und zu ordnen gesucht, daß sich ein Jeder zu seinen Zwecken, besonders zu den [58] practischen, davon aussuchen kann, was ihm am gemäßesten scheint; und ich darf daher meine Freunde wohl bitten, diesem und jenem Capitel gelegentlich wieder einmal ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

Sehr wichtig ist mir's, daß sich in einem so denkenden und forschenden Manne ein Akyanobleps hervorthut. Schon aus dem Platz, wo ich dieses Phänomens erwähne, zeigt sich, daß ich es zwischen die physiologischen und pathologischen hineinstelle. Ich habe diese so bedeutende Erscheinung, wie manche andere, nur leise berührt und nur das Nothwendigste angedeutet, mit der Intention es gelegentlich besonders zu behandeln.

Ew. Hochwohlgebornen gehaltreiches Schreiben leitet mich wieder dahin, und ich werde bey einiger Muße dasjenige zusammenfassen, was Sie mir mittheilen, was sich noch in meinen Papieren und Protocollen findet: denn ich habe zwey dergleichen Personen genau geprüft; und dann werde ich bitten, mich darüber aus eignem Sinn und Erfahrung weiter zu belehren.

Ich gestehe gern, daß ich diese abnorme Erscheinung eher für physiologisch als für pathologisch an sprechen möchte. Sie wiederholt sich so oft, findet sich durchaus bey gesunden Seh-Organen, gehört ganzen Familien an, und es giebt kein Mittel, keine Curart dagegen. Zwar finden sich auch wohl Krankheiten, die mehr oder weniger diese Charactere an sich tragen; allein ich bin demungeachtet geneigt, wie oben gesagt, [59] zu denken. Wir haben kein Recht, den Zustand des Mohren für pathologisch anzusehen, so wenig als der weißen Hafen, Füchse und Bären, ob wir gleich wissen, daß dort die menschliche Natur durch ein heißes, und hier die thierische durch ein kaltes Clima determinirt wird. Sind ja doch selbst die Kaninchenaugen bey Cretinismus nicht immer als pathologisch anzusehen.

Was mich besonders reizt das Phänomen von dieser Seite zu betrachten, ist die Überzeugung, daß hier eine Pforte befindlich ist, obgleich eine sehr enge, um in das Allerheiligste der Farbenlehre zu bringen: ein Nadelöhr wozu es freylich schwer seyn möchte den passenden Faden zu finden. Denn weder das Schiffseil des gemeinen Verstandes, noch die transcendenten Spinneweben sind geschickt hier eingefädelt zu werden. Vielleicht gelingt es, mit Ew. H. Beyhülfe; weswegen ich die Sache, die Ihnen so nahe liegt, mehr als jemals zu beachten Sie ersuche.

Zweyerley, was für die Chromatik interessant ist, fand, man sonst in Copenhagen: chinesische Malerfarben, wovon mir noch ein sehr schönes Roth und Geld erinnerlich sind, ferner farbige kleine Seidenstränge, die nach wunderlichen Schattirungen und Gegenstellungen in seinem Papier neben einander gelegt waren. Dergleichen brachte ein Freund vor einigen Jahren von Copenhagen mit. Möchten Sie die Gefälligkeit haben, mir gelegentlich einige Nachricht [60] zu geben, ob sich solche Dinge finden, und zu welchem Preise.

In den Archives littéraires de l'Europe Nr. 38. Februar 1807 steht eine Abhandlung von Prévost welche wenig Erfreuliches hat, weil sie ohne irgend etwas zu begründen, die mehrgedachte Erscheinung zum Beweis des skeptischen Satzes gebraucht: daß nicht alle Menschen drei Farben überein sehen; wodurch uns denn wenig geholfen ist.

Mich zu geneigtem Andenken empfehlend.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1811. An Joachim Dietrich Brandis. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9A7C-F