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An Friedrich Heinrich Jacobi

Auf deinem freundlichen Brief, den ich zu Anfang des Jahrs, als ein gutes Omen erhielt, will ich sogleich dankbar einige allgemeine Betrachtungen erwidern.

Die Menschen werden durch Gesinnungen vereinigt, durch Meynungen getrennt. Jene sind ein Einfaches, in dem wir uns zusammenfinden, diese ein Mannigfaltiges, in das wir uns zerstreun. Die Freundschaften der Jugend gründen sich auf's Erste, an den Spaltungen des Alters haben die letztern Schuld. Würde man dieses früher gewahr, verschaffte man sich bald, indem man seine eigne Denkweise ausbildet, eine liberale Ansicht der übrigen, ja der entgegengesetzten, so würde man viel verträglicher seyn, und würde durch Gesinnung das wieder zu sammeln suchen, was die Meynung zersplittert hat.

Ich für mich kann, bey den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden als das andre. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen.

[226] Siehst du so steht es mit mir, und so wirke ich nach Innen und Außen immer im Stillen fort, mag auch gern, daß ein jeder das Gleiche thue. Nur wenn dasjenige, was mir zu meinem Daseyn und Wirken unentbehrlich ist, von andern als untergeordnet, unnütz oder schädlich behandelt wird, dann erlaube ich mir, einige Augenblicke verdrießlich zu seyn und auch dieß vor meinen Freunden und Nächsten nicht zu verbergen. Das geht aber gleich vorüber, und wenn ich auch eigensinnig auf meine Weise fortwirke, so hüte ich mich doch vor aller Gegenwirkung, wie sonst, so auch jetzt.

Daß du deine Werke als historische Documente ansiehst, ist sehr wohl gethan in mehr als einem Sinn: denn bey Verbesserung früheren Schriften macht man es niemand recht; dem Leser nimmt man was ihm auf seiner Bildungsstufe am gemäßesten war, und sich selbst befriedigt man nicht: denn man müßte nicht verbessern und umarbeiten, sondern völlig umgießen. Ein frischer Gehalt geht nicht in die alte Form.

Daß es dir und den Deinigen wohl gehe, ist mein herzlicher Wunsch. Grüße Sie alle! Ich freue mich, daß du bey dem Rouge et noir, das du in Absicht auf die Localität des Wohnorts spielen mußtest, so gut gefahren bist. Mich hat mein Genius auf eine ähnliche Weise geleitet.

Ich lege hier das erste Verzeichniß der Handschriften bey, wie es vor einem Jahr aussah; den [227] Zuwachs kann ich nicht melden, aber er ist sehr ansehnlich; doch war die Masse bedeutender Menschen im vorigen Jahrhundert so groß, daß wenn man auch nicht über diese Epoche hinausgehn will, doch immer eine große Erndte zu gewinnen ist. Mir fehlen z.B. Voltaire, Rousseau, Buffon, Helvetius, Montesquieu, und wer nicht alles! Wie viel lebende Correspondenten hat nicht Eure Academie der Wissenschaften! Sollte von bedeutenden Bayern und Oberdeutschen aus der frühern Zeit nicht ein Blättchen zu finden seyn? z.B. von Aventinus; Keppler fehlt mir auch. Die bedeutendsten Personen der Reformation und des dreyßigjährigen Kriegs habe ich vor kurzem erhalten. Ich habe die Blätter alle in der schönsten Ordnung und sie machen, besonders verbunden mit einem Medaillen-Kabinett vom 15. Jahrhundert an, gar oft eine angenehme und die Vorzeit vergegenwärtigende Unterhaltung.

Daß du meinem zweyten Theil gewogen bist, macht mit Muth zum dritten, dem ich diesen Sommer widmen werde.

Iffland hat uns vor kurzem durch sein meisterhaftes Spiel höchlich ergetzt. Die Meinigen sind wohl, und so lebe denn auch so gut als es uns noch vergönnt ist! denn der Grieche hat wohl recht, wenn er sagt.

»Das Alter bringt des Alternden gar viel herbey«.

Das Beste und Liebste!

Weimar den 6. Januar 1813.

G. [228]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1813. An Friedrich Heinrich Jacobi. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9B37-1