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An Adolph Oswald Blumenthal

Hierbei erfolgt das versprochene Verzeichniß der auf hiesiger Großherzoglicher Bibliothek befindlichen Werke, welche bei Ihrer Arbeit interessant seyn könnten; ist die Breslauische reicher, so zeigen Sie mir es gefälligst an. Umstände erlauben mir nicht, gegenwärtig, wie ich wünschte, auf Ihr Geschäft meine Gedanken zu richten; nur so viel sage ich:

Die chronologische Betrachtung und Ordnung geht allen anderen vor. Denn wie sich die lateinische Sprache durch zufälliges, dann vorsätzliches Pfaffenverderbniß in die romanische verlor und die südwestlichen Völker mit einer solchen Verkindischung sich begnügen mußten; so war nichts natürlicher, als daß begabte, freiere Geister von der ausgearteten absurden Tochter wieder zur hohen Mutter zurückkehrten.

Eben so mußte sich der Deutsche aus einem mönchisch barbarischen Druck erst in seine eigne natürliche Liebenswürdigkeit, dann aber mit entschiedenem Geschmacksbedürfniß gegen die lateinische Sprache wenden.

Damit aber auch ich von Ihren Untersuchungen Vortheil ziehe, so gegen das alphabetische Verzeichniß ein chronologisches zurück. Die frühesten Dichtungen gegenwärtigen Verzeichnisses sind aus der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts, nur Sebastian Brant erscheint am Ende des fünfzehnten; [158] hier begegnen und kreuzen sich die derbere deutsche und die zartere lateinische Dichtkunst. Et deosculatae sunt, wie zwei verwandte Tugenden, kann man wohl ausrufen, beiliegendes Gedicht ansehend und dessen Veranlassung bedenkend.

Ferner möchte ich Sie ermahnen, daß, wenn Sie die Dichter chronologisch gestellt, Sie alsdann einen jeden nach seinem eigenthümlichen Charakter schildern; daraus folgt schon, wie und was er gedichtet hat. Lassen Sie sich ja nicht auf die Rubriken ein, wornach man die schönen Redekünste zu sondern und zu ordnen pflegt. Auf Ihrem Felde werden Sie ohnehin unter allen äußeren Formen immer nur elegische und didaktische Gesinnung finden. Im Nachtrag zu meinem Divan habe ich mich hierüber, zwar sehr kurz, aber zu Ihrem Zweck hinlänglich erklärt.

Metrische deutsche Übersetzung zu versuchen, können Sie nicht umgehen. Möge doch an Ihrer Hand lateinische und deutsche Poesie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts abermals sich begegnen, wobei erhellen wird, wie sehr in dreihundert Jahren unsere Sprache sich ausgebildet, um auf ihre Weise auszudrücken, was wir bei und an den Alten so höchlich bewundern.

Nun noch ein Wort von der neuern Teutschthümlichkeit. Die Menschen in Masse werden von jeher nur verbunden durch Vorurtheile, und aufgeregt durch Leidenschaften; selbst der beste Zweck wird somit immer getrübt und oft verschoben; aber demohngeachtet wird [159] das Trefflichste gewirkt, wenn auch nicht im Augenblick, doch in der Folge, wenn nicht unmittelbar, doch veranlaßt. Und so werden Sie erleben, daß Werth und Würde unserer Ahnherrn rein und schön aus der eignen Sprache hervortreten; denn es ist wahr, was Gott im Koran sagt: Wir haben keinem Volk einen Propheten geschickt, als in seiner Sprache! Und so sind denn die Deutschen erst ein Volk durch Luthern geworden. Lassen Sie sich aber durch alles dieß in Ihrem eigensten Geschäfte nicht irren; denn man kennt die Eigenthümlichkeit einer Nation erst alsdann, wenn man sieht, wie sie sich auswärts beträgt.

So weit für dießmal. Mit den besten Wünschen und Hoffnungen für Ihr Unternehmen.

Weimar den 28. Mai 1819.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1819. An Adolph Oswald Blumenthal. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9BC2-5