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An Carl Friedrich Zelter

Und so war es recht daß, in den fremden, frommem Landen, du die Rede zuerst wieder an mich richtest; dagegen soll abermals die sauberste Abschrift in weniger Zeit erscheinen. Wenn ich vergangenen ganzem Winter, dasjenige im Mspt revidirend, was du jetzt verschluckst, stets an dich dachte; so vergiltst du mir's durch die lieben Blätter, die mir auf ewig den Wunsch: Herrenhuth in seiner Individualität zu sehen vollkommen befriedigten, Nun so sey es denn! Der schneeweiße Saal (nach Werners unschätzbarem Narren-Sonnet, in Christi Blut reingewaschen) soll nun von mir, und wenn ich noch so mobil wäre, nicht betreten werden.

Von meinem Neust-Gedruckten sollen saubre Exemplare bald nachfolgen; besonders das Morphologisch-Wissenschaftliche, in zwey Bände geordnet, wo es eher nach etwas aussieht.

Für dich ist mir übrigens nicht bange: deine Natur weis zu assimiliren worauf doch alles ankommt. Verstünde man seinen Vortheil man würde nichts Überliefertes tadeln, besonders was uns nicht anmuthet liegen lassen, um es vielleicht künftig aufzunehmen. Dies begreifen die Menschen nicht und behandlen den Autor wie einen Garkoch; dafür liefert man ihnen denn auch Jahrmarkts-Bratwürste nach Herzenslust.


[110] »Anders lesen Knaben den Terenz
Anders Grotius.«
Mich Knaben ärgerte die Sentenz,
Die ich nun gelten lassen muß.

Lese ich heute den Homer so sieht er anders aus als vor zehen Jahren; würde man dreyhundert Jahre alt, so würde es immer anders aussehen. Um sich hievon zu überzeugen blicke man nur rückwärts, von den Pisistratiden bis zu unserm Wolf schneidet der Altvater gar verschiedne Gesichter.

Übrigens ist mir höchst erfreulich daß er (genannter Freund) nicht verbrannt, noch vom Fieber aufgespeist ist, denn ich mag ihn über der Erde nicht gern entbehren. Seinesgleichen kommt auch nicht wieder. Hätte ihn Gott zu so vielen noch freundlich gewollt! – Doch wie soll das alles beysammen seyn was sich widerspricht.

Daß du meine Behandlung der schmuzigen Campagne billigst freut mich sehr. In einer solchen Tragödie den Gratioso zu spielen ist immer auch eine Rolle.

Nun zum Nächstvergangnen! – Am 19. Juni gelangte ich nach Marienbad, bey sehr schönem Wetter. Herrlich Quartier, freundliche Wirthe, gute Gesellschaft, hübsche Mädchen, Musikalische Liebhaber, angenehme Abend-Unterhaltung, köstliches Essen, neue Bedeutende Bekanntschaften, alte wiedergefundne, Leichte Athmosphäre, zweytausend Pariser Fuß über der Meeresfläche, [111] Stifts-Gelage pp. alles trug bey das drey Wochen dauernde schöne Wetter vollkommen zu benutzen, zu genießen und das folgende, unfreundlich-wechselnde zu übertragen. Nach der ausdauernden Trockniß des Mays und Junis gönnte man dem Landmann erquicklichen Regen.

Erfahren hab ich manches und notirt, anderes Mitgebrachte redigirt und gereinigt, so daß bey meiner Rückkunft der Druck wieder angehen kann, wodurch ich denn abermals den Winter zu betrügen denke.

|: Da ich indessen einen guten Schreiber gewonnen der mir sehr fehlte, so möge derselbe fortfahren :|

Der größte Gewinn aber, den ich in diesen Tagen zog, war die persönliche Bekanntschaft des Herrn Grafen Kaspar Sternberg, mit dem ich schon früher in brieflicher Verbindung stand. Von Jugend auf dem geistlichen Stande gewidmet, gelangte er endlich zur Stelle eines Domherrn zu Regensburg; dort gewann er, neben Welt- und Staatsgeschäften, die Natur, besonders das Pflanzenreich lieb und that viel dafür. Als er nun bey Umkehrung Deutschlands auch von seiner Stelle vertrieben ward, ging er nach dem Mutterlande Böhmen zurück und lebt nun theils in Prag, theils auf seinen von einem älteren Bruder ererbten Gütern. Hier kommt ihm dann die Natur wieder freundlich zu Hilfe. Er besitzt wichtige Steinkohlenwerke, in deren Dach die seltsamsten Pflanzen [112] erhalten sind, welche, indem sie nur der südlichen Vegetation analoge Gebilde zeigen, auf die entferntesten Epochen der Erde hinweisen. Er hat schon zwey Hefte derselben herausgegeben, lasse sie dir gelegentlich von einem Naturfreunde vorlegen.

Und so möge denn dieses Blatt glücklich hinüber fliegen. Vielleicht schreib ich noch einmal von hier, von Hause aber gleich.

Möge dir alles wohlgerathen! Mir geht es nach Art, Jahren und Weise noch immer gut genug.

treulichst

Stadt Eger d. 8ten August 1822.

G.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1822. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9DD8-5