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An Bernhard August von Lindenau

[Concept.]

[Weimar, 20. October.]

Hochwohlgeborner
Insonders hochzuehrender Herr,

Ew. Hochwohlgebornen hätten mich auf keine angenehmere Weise an die interessanten Gespräche erinnern können, welche ich bey Ihrem Hierseyn mit Ihnen zu führen das Glück hatte, als durch das übersendete reichhaltige Heft, welches ich gelesen und wieder gelesen habe. Besonders muß man die ersten Blätter sehr anziehend finden, in welchen Sie die höchsten Gegenstände, die der Sinn zu fassen, die Einbildungskraft zu ergreifen und der Verstand zu durchdringen strebt, mit Einsicht und Klarheit, mit[179] Ordnung und Kraft so darstellen, daß zugleich der Geist unterrichtet und aufgeklärt, und das Herz bewegt und erhoben wird. Fürwahr Sie haben damit auf eine sehr würdige Weise das bedeutende Gestirn das jetzt alle unsere Aufmerksamkeit fordert, auf seiner Bahn begrüßt.

Was die wissenschaftliche Sprache betrifft, so gestehe ich gern, daß ich Niemanden, am wenigsten dem Mathematiker verarge, wenn er sich wie seine Vorfahren und Kunstgenossen ausgedrückt. Derjenige dessen Lebensgeschäft es ist den geheimnißvollsten Kräften nachzuspüren, ihre Wirkungen im Besondern und Einzelnen auf das genauste zu beobachten, zu messen, zu berechnen und auf eine wunderwürdige Weise vorherzusagen, muß ja wohl das Recht haben, diesen Kräften solche Namen zu geben, die ihm am schicklichsten däuchten, und sich dieselben vorzustellen, wie es keiner Denkart am gemäßesten ist; ja vielleicht hat man im Gegentheil und andere nicht ganz mit Unrecht im Bedacht, daß wir nur einiger Bequemlichkeit willen, gewisse Formeln lieben, die uns, weil wir einmal damit zu operiren gewohnt sind, bey unsern allgemeinern Forschungen zum Leitfaden dienen können.

Dem sey jedoch wie ihm wolle, so bleibt die Ehrfurcht unverrückt, welche jeder für die großen und folgereichen Arbeiten, die von diesem kleinen Erdenrunde dem Weltall gleichsam gebieten, empfinden muß. Bleiben Ew. H. überzeugt, daß ich nichts mehr wünsche [180] als in Ihrer Nähe von jenen erhabenen Gegenständen, insofern es mir gegönnt seyn möchte, genauere Kenntniß zu erlangen, und mich mit Ihnen über manches zu unterhalten, wodurch ich nicht geringe Förderung mir versprechen könnte. Der ich die Ehre habe mich mit vollkommener Hochachtung zu unterzeichnen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1811. An Bernhard August von Lindenau. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9DEC-A