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An Charlotte von Stein

Der Schluß Ihres Briefes, theuerste Freundinn, stach freylich gegen den wohlwollenden Anfang desselben nur allzusehr ab. Mit herzlichem Bedauern vernehm' ich den Unfall, der unsern lieben abermals betrifft. Es ist manchmal als wenn das was wir Schicksal nennen gerade an guten und verständigen Menschen seine Tücken ausübte, da es so viele Narren und Bösewichter ganz bequem hinschlendern läßt. Fromme Leute mögen das auslegen wie sie wollen und dadrinn eine prüfende Weisheit finden; uns andern kann es nur verdrüßlich und ärgerlich seyn. Grüßen Sie ihn schönstens und versichern ihn meiner aufrichtigsten Theilnahme.

Haben Sie Dank, daß Sie meine scheidende Pandora so gut aufgenommen. Ich wünsche der Wiederkehrenden zu seiner Zeit dasselbe Glück. Daß Sie einzelne Stellen ausgezeichnet hat mir viel Vergnügen gemacht. Das Ganze kann nur auf den Leser gleichsam geheimnißvoll wirken. Er fühlt diese Wirkung im Ganzen, ohne sie deutlich aussprechen zu können, aber sein Behagen und Missbehagen, seine Theilnahme oder Abneigung entspringt daher. Das Einzelne hingegen was er sich auswählen mag, gehört eigentlich sein und ist dasjenige was ihm persönlich convenirt. Daher der Künstler, dem freylich um die Form und um den [140] Sinn des Ganzen zu thun seyn muß, doch auch sehr zufrieden seyn kann, wenn die einzelnen Theile, auf die er eigentlich den Fleiß verwendet, mit Bequemlichkeit und vergnügen aufgenommen werden.

Ich habe mein Leben indessen hier so fortgeführt, bin zufrieden und fleißig gewesen, und so sehr ich mich vor Bekanntschaften gehütet, manche neue und genugsam interessante gemacht.

Alle meine wissenschaftlichen literarischen und poetischen Unternehmungen sind um etwas zugerückt. Gezeichnet und sogar gemalt ist worden. Ich befinde mich wohl und kann mit diesem Sommer sehr zufrieden seyn.

Alle Zustände der Gesellschaft von der größter Einsamkeit bis zum größten Lärm und Drängen und jetzt wieder bis zur Einsamkeit habe ich erlebt. So ein Bade- Sommer ist wirklich ein Gleichniß eines Menschenlebens.

Mit der Witterung war es eben so. Die schönsten Maytage, Regen, Hitze und wieder Nässe, Herbstverkündende Nebelabende mit den schönsten Mondnächten, das alles geht zwar überall uns über dem Haupt weg; allein in diesen Gebirgen und Felsklüften empfindet man doch jedes bedeutender, weil es sich an solchen Gegenständen characteristischer ausspricht. Die Hitze wird gleich zum Glutofen und ein Regenguß zur Sündfluth.

Wenn Sie alle wieder zusammen sind, so gedenken[141] Sie mein. Empfehlen Sie mich den Fürstlichen Damen und sämtlichen Freundinnen. Ich bleibe zwar noch einige Zeit auswärts, werde aber meinen hiesigen Aufenthalt bald verlassen und nach Franzenbrunn gehen, doch darf ich mir keine Briefe mehr erbitten, weil ich nicht weiß, wie und wo sie mich treffen, da die Posten hierher gar zu langsam gehen. Und somit will ich mich für dießmal schönstens empfohlen haben.

Carlsbad d. 16. August 1808.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1808. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9E5E-2