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An Carl Friedrich Zelter

Ottilie lies't mir die Abende die Leben Plutarchs vor und zwar auf neue Weise, nämlich erst die Griechen; da bleibt man denn doch in einem Local, bey einer Nation, einer Denkens- und Bestrebensweise.

Sind wir damit durch, so wird es an die Römer kommen, und auch diese Serie durchgeführt. Die Vergleichungen [104] lassen wir weg und erwarten von dem reinen Eindruck wie sich das Ganze zum Ganzen vergleicht.

Schon seit drey Monaten les ich keine Zeitungen und da haben alle Freunde bey mir das schönste Spiel. Ich erfahre den Ausgang, den Abschluß, ohne mich über die mittlern Zweifel zu beunruhigen. Wenn ich denke, was man der Belagerung von Missolunghi für unnützen Antheil zugewendet, würde ich mich schämen, wenn ich nicht meine besten Freunde in gleicher Thorheit am heutigen Tage befangen sähe.

Die herrlichste Cur aber und die kräftigste Bestätigung für den Menschen, der sich in den Kreis seiner Thätigkeit zurückzieht, ist der Spaß, einen Jahrgang von 1826 gebunden zu lesen, wie ich mir ihn jetzt mache, wo so klar ist daß man durch weder für uns noch die Unsrigen, besonders im Sinn einer höhern Bildung, daher auch nicht das Mindeste abzuleiten war.

Auch erschien bey mir gestern ein merkwürdiges Phänomen. Ein Vater brachte seine flügelspielende Tochter zu mir, welche, nach Paris gehend, neuere Pariser Compositionen vortrug; auch mir war die Art neu, sie verlangt eine große Fertigkeit des Vortrags, ist aber immer heiter; man folgt gern und läßt sich's gefallen. Da du dergleichen gewiß kennst, so kläre mich darüber auf.

[105] Ich habe die zwey Bände: Fragments de Géologie par Alexandre de Humboldt erhalten und durchgesehen; dabey hab ich eine wundersame Bemerkung gemacht die ich mittheilen will. Das außerordentliche Talent dieses außerordentlichen Mannes äußert sich in seinem mündlichen Vortrag, und genau besehen: jeder mündliche Vortrag will überreden und den Zuhörer glauben machen er überzeuge ihn. Wenige Menschen sind fähig, überzeugt zu werden; überreden lassen sich die meisten, und so sind die Abhandlungen die uns hier vorgelegt werden wahrhafte Reden, mit großer Facilität vorgetragen, so daß man sich zuletzt einbilden möchte, man begreife das Unmögliche. Daß sich die Himalaja-Gebirge auf 25000' aus dem Boden gehoben und doch so starr und stolz als wäre nichts geschehen und den Himmel ragen, steht außer den Gränzen meines Kopfes, in den düstern Regionen, wo die Transsubstantiation pp. hauset, und mein Cerebralsystem müßte ganz umorganisirt werden – was doch schade wäre – wenn sich Räume für diese Wunder finden sollten.

Nun aber gibt es doch Geister die zu solchen Glaubensartikel Fächer haben, neben sonst ganz vernünftigen Loculamenten; ich begreif es nicht, vernehm es aber doch alle Tage. Muß man denn aber alles begreifen? Ich wiederhole: unser Welteroberer ist vielleicht der größte Redekünstler. Da seinem ungeheuren Gedächtniß alle Facta gegenwärtig sind, so weiß er [106] sie mit der größten Geschicklichkeit und Kühnheit zu brauchen und zu nützen. Wer aber vom Metier ist, sieht ziemlich klar, wo das Schwache sich am Starken hinanrankt und das Starke gar nicht übel nimmt sich etwas bekleidet, verziert und gemildert zu sehen.

Und so ist denn von großer Wirkung: ein solches Paradox mit Kunst und Energie vorgetragen; deswegen auch schon viele unsrer wackersten Naturforscher sich einbilden, sie könnten das Unmögliche denken; dagegen erscheine ich ihnen als der hartnäckigste Häresiarch, worin uns Gott gnädiglich erhalten und bestätigen wolle. Sela!

Weimar den 5. October 1831.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1831. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9F1D-E