1831, 20. Februar.
Mit Johann Peter Eckermann
Mit Goethe zu Tische. Er eröffnet mir, daß er meine Beobachtung über die blauen Schatten im Schnee, daß sie nämlich aus dem Wiederschein des blauen Himmels entstehen, geprüft habe und für richtig anerkenne. »Es kann jedoch beides zugleich wirken,« sagte er, »und die durch das gelbliche Licht erregte Forderung kann die blaue Erscheinung verstärken.« Ich gebe dieses vollkommen zu und freue mich, daß Goethe mir endlich beistimmt.
»Es ärgert mich nur,« sagte ich, »daß ich meine Farbenbeobachtungen am Monte-Rosa und Montblanc nicht an Ort und Stelle im Detail niedergeschrieben habe. Das Hauptresultat jedoch war, daß in einer Entfernung von achtzehn bis zwanzig Stunden mittags bei der hellsten Sonne der Schnee gelb, ja röthlichgelb erschien, während die schneefreien dunkeln Theile des Gebirgs im entschiedensten Blau herübersahen. Das Phänomen überraschte mich nicht, indem ich mir hatte vorhersagen können, daß die gehörige Masse von zwischenliegender Trübe dem die Mittagssonne reflectirenden [26] weißen Schnee einen tiefgelben Ton geben würde, aber das Phänomen freute mich besonders aus dem Grunde, weil es die irrige Ansicht einiger Naturforscher, daß die Luft eine blaufärbende Eigenschaft besitze, so ganz entschieden widerlegt; denn wäre die Luft in sich bläulich, so hätte eine Masse von zwanzig Stunden, wie sie zwischen mir und dem Monte-Rosa lag, den Schnee müssen hellblau oder weißbläulich durchscheinen lassen, aber nicht gelb und gelbröthlich.«
»Die Beobachtung,« sagte Goethe, »ist von Bedeutung und widerlegt jenen Irrthum durchaus.«
»Imgrunde –« sagte ich – »ist die Lehre vom Trüben sehr einfach, sodaß man gar zu leicht zu dem Glauben verführt wird, man könne sie einem andern in wenig Tagen und Stunden überliefern; das Schwierige aber ist, nun mit dem Gesetz zu operiren und ein Urphänomen in tausendfältig bedingten und verhüllten Erscheinungen immer wiederzuerkennen.«
»Ich möchte es dem Whist vergleichen,« sagte Goethe, »dessen Gesetze und Regeln auch gar leicht zu überliefern sind, das man aber sehr lange gespielt haben muß, um darin ein Meister zu sein. Überhaupt lernt Niemand etwas durch bloßes Anhören, und wer sich in gewissen Dingen nicht selbst thätig bemüht, weiß die Sachen nur oberflächlich und halb.«
Goethe erzählte mir sodann von dem Buche eines jungen Physikers [Vaucher, Histoire philosophique des plantes d'Europe], das er loben müsse wegen der Klarheit, [27] mit der es geschrieben, und dem er die theologische Richtung gern nachsehe.
»Es ist dem Menschen natürlich,« sagte Goethe, »sich als das Ziel der Schöpfung zu betrachten und alle übrigen Dinge nur in Bezug auf sich und insofern sie ihm dienen und nützen. Er bemächtigt sich der vegetabilischen und animalischen Welt, und indem er andere Geschöpfe als passende Nahrung verschlingt, erkennt er seinen Gott und preist dessen Güte, die so väterlich für ihn gesorgt. Der Kuh nimmt er die Milch, der Biene den Honig, dem Schaf die Wolle, und indem er den Dingen einen ihm nützlichen Zweck giebt, glaubt er auch, daß sie dazu sind geschaffen worden. Ja, er kann sich nicht denken, daß nicht auch das kleinste Kraut für ihn da sei, und wenn er dessen Nutzen noch gegenwärtig nicht erkannt hat, so glaubt er doch, daß solches sich künftig ihm gewiß entdecken werde.
Und wie der Mensch nun im allgemeinen denkt, so denkt er auch im Besondern, und er unterläßt nicht, seine gewohnte Ansicht aus dem Leben auch in die Wissenschaft zu tragen und auch bei den einzelnen Theilen eines organischen Wesens nach deren Zweck und Nutzen zu fragen.
Dies mag auch eine Weile gehen, und er mag auch in der Wissenschaft eine Weile damit durchkommen, allein gar bald wird er auf Erscheinungen stoßen, wo er mit einer so kleinen Ansicht nicht ausreicht, [28] und wo er ohne höhern Halt sich in lauter Widersprüchen verwickelt.
Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hörner, um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: Warum hat das Schaf keine? und wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, sodaß sie ihm zu nichts dienen?
Etwas anderes aber ist es, wenn ich sage: Der Ochse wehrt sich mit seinen Hörnern, weil er sie hat.
Die Frage nach dem Zweck, die Frage Warum? ist durchaus nicht wissenschaftlich. Etwas weiter aber kommt man mit der Frage Wie? Denn wenn ich frage: Wie hat der Ochse Hörner? so führt mich das auf die Betrachtung seiner Organisation und belehrt mich zugleich, warum der Löwe keine Hörner hat und haben kann.
So hat der Mensch in seinem Schädel zwei unausgefüllte hohle Stellen. Die Frage Warum? würde hier nicht weit reichen, wogegen aber die Frage Wie? mich belehrt, daß diese Höhlen Reste des thierischen Schädels sind, die sich bei solchen geringen Organisationen in stärkerm Maße befinden, und die sich beim Menschen trotz seiner Höhe noch nicht ganz verloren haben.
Die Nützlichkeitslehrer würden glauben, ihren Gott zu verlieren, wenn sie nicht den anbeten sollen, der dem Ochsen die Hörner gab damit er sich vertheidige. Mir aber möge man erlauben, daß ich den verehre, [29] der in dem Reichthum seiner Schöpfung so groß war, nach tausendfältigen Pflanzen noch eine zu machen, worin alle übrigen enthalten, und nach tausendfältigen Thieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen.
Man verehre ferner den, der dem Vieh sein Futter giebt und dem Menschen Speise und Trank so viel er genießen mag, ich aber bete den an, der eine solche Productionskraft in die Welt gelegt hat, daß, wenn nur der millionteste Theil davon ins Leben tritt, die Welt von Geschöpfen wimmelt, sodaß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermögen. Das istmein Gott!«
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