1774, Anfang Mai [Juni?].


Mit Johanna Fahlmer

Goethe. Tante.

Die Tante sitzt vor ihrem Klavier, spielt aber nicht mehr darauf, sondern liest in Mad. du Boccage. Goethe [25] kömmt gestiefelt und in einem englischen Uberrock. Noch auf der obersten Stubentreppe stehend und eines seiner gestiefelten Beine hervorstreckend.

Goethe. Tante! Da komme ich... Ja, gestiefelt und eingemummelt. Das ist die Variation.

Tante. Aber Sie riechen doch als wie in Ambrosia getaucht.

Goethe. Ich komme vom Dechant [Dumeix]. – Aber was machen denn Sie, liebe Tante?

Tante. Da, mit Mad. du Boccage unterhalt' ich mich ganz gut. Wie gefällt Ihnen dies hier? 1

Goethe. O – gut! gut! Ist recht gut!

Tante. Wissen Sie? Sie haben mir's lange gemacht, bis Sie wieder herangekommen sind. Ich habe etwas bekommen, das für Sie zuallererst mit zum Genuß soll sein, aber mit der Zeit – o, dann kömmt's zum Generaltractement für das Publikum ....

(Wir gingen mit einander in der Stube auf und ab. Des kleinen George [Jacobi] Kribbelkrabbel-Briefchen lag auf meinem Tische.)

Tante. Da lesen Sie vom kleinen George.

(Goethe liest. Unterdessen holt die Tante ihre [26] Arbeit und die Blätter vom Merkur und setzt sich an ihren Schreibtisch, Goethe gegenüber.)

Tante. Sehen Sie hier! Nun was habe ich?

Goethe. Was ist's? Was ist's, lieb Täntchen? lassen Sie sehen.

Tante. Es ist, worauf Sie sich bei Bölling [Freund des Goethischen Hauses], wenn's ankäme, als auf ein herrliches Tractement zu Gast geladen haben. 2 Aber ich habe noch mehr.

(Tante hält ihm die Revision [Recension?] über Götz von Berlichingen [Teutscher Merkur Junius 1774, S. 321 ff.] vor die Augen und giebt ihm die Blätter zusammen.)

Goethe (nach einigem Lesen). Nu, Wieland, Du bist ein braver Kerl! Ein ganzer Kerl! Was? fängt er's so an? O, gut! Nun, Sie wissen, Tante, was ich immer von Wieland gesagt habe – ob ich ihm nicht immer gut war? Ich habe allezeit gesagt, es ist ein ganzer Kerl, ein guter Mensch. Aber ich bin gegen ihn aufgebracht worden. Den verfluchten Dreck [»Götter, Helden und Wieland«] schrieb ich in der Trunkenheit. Ich war trunken. Und, wie ich Ihnen gesagt habe, in Ewigkeit hätte ich's nicht selber in Druck gegeben; aber ich hatte es nicht mehr allein in Händen. Und ich bin wie der Herodes: in gewissen Augenblicken kann man alles von mir erhalten. Schon lange haben mir die Kerls vorgeschwätzt: »laß's [27] drucken! laß drucken!« – Nä, ihr sollt nicht! – Da kommen sie mir aber auf's neue: »O mein! laß es uns drucken!« Und ich hatte, Gott weiß! weder neue Bosheit noch Ärger gegen W. – Nun so druckt's und schert euch! – Da, da! (mit dem Finger auf das Blatt deutend) Das ist just, was mich an W. so ärgerte und mich reizte, mich gegen ihn auszulassen. Da der Ton. Sehen Sie, liebe Tante: ich will's nicht sagen, ich selbst hab Recht, W. hat Unrecht; denn Alter, Zeitpunkte, alles macht Verschiedenheit in der Art zu sehen und zu empfinden. Jetzt denk' ich nur so und so; vielleicht in dem Alter von W. – wer weiß, noch eher? – denk ich just so wie er. Drum, was soll ich sagen? Hat er nun Recht? Oder hab' ich nun Recht? Der Eindruck, den man itzt selbst hat, gilt. W. hat Recht, daß er so urtheilt, aber mich ärgert's nun noch. – »Mit der Zeit! Mit der Zeit!« Ja, das ist's! das ist's! Just, just so spricht mein Vater. Die nämlichen Händel, die ich mit diesem in politischen Sachen habe, hab' ich mit W. in diesen Puncten. Der Vater-Ton! der ist's just, der mich aufgebracht hat. – Sagen Sie mir um Gotteswillen: warum er sich just an seine allerschlechteste Arbeit machte und mit den ewigen Briefen sie vertheidigte? Sein Musarion, ein Werk, wovon ich jedes Blatt auswendig lernte, das allervortrefflichste Ganze, das je erschienen ist – nichts, nichts nimmt er sich an, als der Alceste, die für mich jetzt das schlechteste von allen seinen Werken ist. – Ich [28] muß weiter lesen. – Ganz brav! Ganz brav! Nun Wieland, unsere Fehde ist aus: Dir kann ich nichts mehr thun. Das garstige Fratzenzeug hat er schon gelesen, das seh' ich.

Tante. Ja freilich! Kommen Sie, lesen Sie! das hier ist die Antwort darauf. [Ebenda S. 351 f.]

(Er wurde roth. Ich sah, daß es ihn erschütterte.)

Goethe. Besser hätt' er's nicht machen können. Sehr gut! Ich sag's ja: nun muß ich ihn auf immer gehen lassen. W. gewinnt viel bei dem Publico dadurch, und ich verliere. Ich bin eben prostituirt.

(Tante lachte herzlich.)

Nun wieder an den Anfang der Recension. Die Vergleichung mit dem jungen Füllen u.s.w. Durchgeschnattert und dabei vielmal ausgerufen: Es ist wahr! Er hat Recht! Ganz excellent! – Weiter gelesen. – Gut! Meinen Weislingen beurtheilt er, wie ich ihn will gelesen haben. – Gut! Besser als W. versteht mich doch keiner. – An der Stelle, wo er wegen der Vermischung der Sprachen in verschiedenen Jahrhunderten getadelt wird, sagte er: Auch recht! auch gut! Aber, wer Teufel anders, als ein W., Lessing, kann mich hierinnen beurtheilen? Freilich hat er ganz Recht. Ich hab's selber genug gefühlt u.s.w. Die Folge meiner Werke soll's zeigen, ob ich meine Fehler kannte.

Tante. Haben Sie, seit ich zu Düsseldorf war, nicht sonst noch etwas Hübsches im Genre des Göttergesprächs componirt?

[29] Goethe. Nichts, liebe Tante. Den Satyros – nun, der war schon vor Ihrer Abreise fertig.

Tante. Gar nichts? Ein dergleichen freundschaftliches Drama. (Sie guckte ihm gerade in die Augen.) Sie sind aufrichtig Goethe! Darum müssen Sie mir's gestehen.

Goethe. Das will ich. Ja, liebe Tante, fragen Sie nur.

Tante. Das Unglück der J[acobi]?

Goethe. Ja, das ist wahr. Aber schon lange, ehe ich Sie noch alle kannte. Es war bloß auf Anekdoten, auf Wischwaschereien gebaut, alles von Hörensagen. Ihr alle seid lächerlich mitgespielt. Sie auch, Tante! Niemand als die L[a]R[oche], Merck und der Dechant haben's gelesen, und niemand mehr in der Welt soll es auch zu hören und zu sehen bekommen; es soll nie wieder an das Licht riechen. Es ist auch nicht einmal ausgemacht – gilt nicht mehr.

Tante. Aber ich doch muß es hören?

Goethe. Liebe Tante, das kann unmöglich sein. Verlangen Sie es nicht!

Nach Hin- und Widerreden wurde es klar, wer der Held darin sei und was den Anlaß dazu gegeben hatte. Es wurde gleich nachher, als G. und Merck von Koblenz zurückkamen, geschrieben ..... Wir hatten großen Spaß und Gelächter über das Ding, wie und wohin er mich schief und übereck gestellt hätte u. dergl.


1 Aretin's Grabschrift:
L'Aretin repose en ce lieu,
De chacun il fit la satire,
Mais ne connaissant point de Dieu,
De Dieu seul il ne peut medire.

Note:

2 Goethe war wegen Wieland's Rache voller Erwartung und sah deswegen dem IV. Theile des Merkurs mit brennender Ungeduld entgegen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1774. 1774, Anfang Mai [Juni?]. Mit Johanna Fahlmer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A036-D