1819, 3. October.
Mit Friedlieb Ferdinand Runge
Ich hatte die Genugthung, daß Doebereiner mir seinen ganzen Beifall zollte und mir beim Abschied[89] dankte für »die höchst belehrenden Versuche« [über die Wirkung von Giften auf's Katzenauge]. ›Sie sind von der höchsten Wichtigkeit,‹ sagte er, ›und noch heute Abend werde ich Goethe davon erzählen‹ ..... Schon am andern Tage nachmittags stand Doebereiner unter meinem Fenster und rief zu mir hinauf: ›Ich habe nicht lange Zeit, aber ich komme in einer für Sie wichtigen Angelegenheit. Ich war bei Goethe, sprach ihn gestern und sprach ihn jetzt. Er will Sie durchaus kennen lernen und Ihre Versuche selbst sehen. Gehen Sie hin; morgen Nachmittag erwartet er Sie. Versäumen Sie es ja nicht; eine solche Gelegenheit kommt alle hundert Jahre nur einmal vor.‹
Ich kann nicht läugnen, daß nach diesen Worten ein ganz eignes Beben mein junges Wesen durchrieselte. Ich kannte bis dahin von Goethe's Leistungen nur weniges, aber seinen »Faust« wußte ich auswendig, und dieses war übergenug, den unschätzbaren Werth des Wunsches dieses Mannes zu würdigen, der sich herabließ, einem unbedeutenden Studenten mit seiner Katze unterm Arm Audienz zu geben. Und so war es denn auch buchstäblich. Als ich nachmittags im entliehenen schwarzen Frack (damals eine Seltenheit in Jena) mit einem, auf gleiche Weise angeschafften Philisterhut und meiner Katze unterm Arm über den Marktplatz schritt, wurde ein allgemeiner Aufstand. Die Burschen, die gruppenweise herumstanden, kehrten auf den Ruf »Dr. Gift!« sich plötzlich gegen mich und vertraten mir in [90] meinem höchst abenteuerlichen Aufzuge den Weg. »Laßt mich zufrieden!« sagte ich mit einem Ernste, wie er mir in späteren Jahren nie wieder gelungen ist zu zeigen, »ich habe einen wichtigen Gang, ich gehe zu Goethe.« Man ließ mich gehen, ohne auch nur einen schlechten Witz mir nachzurufen. Ich verdankte dieß theils der allgemeinen Beliebtheit, der ich mich als lustiger Bursch erfreute, theils aber auch dem Spitznamen »Dr. Gift«, weil man wußte, daß ich immer in Giftpflanzen wühlte und eifrig bestrebt war, etwas Nützliches zu leisten. Ein eifriges Streben wird, wenn es auch lächerliche Seiten darbietet, selten verhöhnt. Der »Dr. Gift« war also eigentlich kein Spitzname, sondern ein Ehrentitel für mich. Zu meinem Glücke wußte ich gar nicht, daß Goethe Wirklicher Geheimer Staatsminister war und hatte auch, obgleich man mir gesagt hatte, ich müßte ihn »Excellenz« nennen, gar keinen Begriff von dem, was man Hofzwang oder Etiquette nennt. Ich trat also, nachdem ich mich dem Kammerdiener zu erkennen gegeben, mit größter Ungezwungenheit ins Empfangszimmer ein, in welchem bald darauf auch Goethe erschien.
Wie unser Willkommen gewesen, kann ich nicht sagen. Die schöne, hohe, mächtige Gestalt trat mir mit einem so überwältigenden Eindruck entgegen, daß ich ihm zitternd die Katze hinreichte, gleichsam als wollte ich mich damit vertheidigen. ›Ach so!‹ sagte er: ›das ist also der künftige Schrecken der Giftmischer? Zeigen [91] Sie doch!‹ Ich bog nun den Katzenkopf so, daß die Tageslichtbeleuchtung beide Augen gleichmäßig traf, und mit Erstaunen bemerkte Goethe den Unterschied an beiden Augen: neben der schmalen Spalte in dem einen Auge fiel das große, runde Sehloch in dem andern umsomehr auf, da vermöge einer etwas starken Gabe fast die ganze Regenbogenhaut sich zurückgezogen hatte und unsichtbar war. ›Womit haben Sie diese Wirkung hervorgebracht?‹ fragte Goethe. »Mit Bilsenkraut, Excellenz! Ich habe den unvermischten Saft des zerstampften Krautes ins Auge gebracht, darum ist die Wirkung so stark.« ›Doebereiner hat mir gesagt‹, bemerkte Goethe, ›daß die Arten der Gattung Belladonna und Datura auf ganz gleiche Weise wirken, wie die von Hyoscyamus, und daß Sie gefunden haben, der das Auge so sehr verändernde Stoff befinde sich in allen Theilen der Pflanze von der Wurzel bis zur Blüthe, Frucht und Samen. Wie verhält es sich mit anderen Pflanzen, besonders solchen, die eine verwandtschaftliche Gestalt haben?‹ – »Ein mir befreundeter Arzt, Dr. Karl Heise, hat, veranlaßt durch die auffallende Wirkung der genannten Pflanzen, eine sehr umfassende Arbeit unternommen und durchgeführt, und dadurch bewiesen, daß nur die Pflanzen der oben genannten Gattungen eine den Augenstern erweiternde Kraft besitzen. Alle andern Pflanzen, deren er unzählige in ihrer Einwirkung auf's Katzenauge versuchte zeigten sich völlig wirkungslos, ausgenommen einige, [92] die aber das Gegentheil bewirkten, nämlich eine Verengerung oder Verkleinerung des Sehlochs; z.B. Aconitum.« – ›Ei!‹ sagte Goethe, ›da könnte man ja auch auf diese Weise das ächte Gegenmittel gegen die schädlichen Wirkungen der Tollkirsche u.s.w. entdecken. Versuchen Sie dieß doch einmal, und lassen Sie von den beiden entgegengesetzt wirkenden Pflanzen nach einander oder gleichzeitig etwas auf's Katzenauge einwirken, und beobachten Sie den Erfolg. Die Sache hat ihre Schwierigkeiten, aber Sie werden sie schon überwinden. Nun sagen Sie mir aber, wie sind Sie auf diese eigenthümliche Art von organischer Chemie gekommen?‹
Die Frage hatte mir schon Doebereiner vorgelegt, aber ich war nicht dazu gekommen, sie ihm ausführlich zu beantworten. Es war mir daher angenehm, es hier bei Goethe zu thun, da ich voraussetzen konnte, sie würde seine regste Theilnahme und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Ich begann nun meine Erzählung.
»Im Jahre 1810 wurde ich, ein Pfarrerssohn vom Lande bei Hamburg, nach Lübeck gesandt und in die Rathsapotheke in die Lehre gethan. Es war eine kriegerisch bewegte Zeit, und Napoleon bereitete seinen Einfall in Rußland vor. Alle irgend Wehrfähigen wurden unter die Fahnen gerufen, und bei der Widerwilligkeit, unter dem Wütherich zu dienen, wurde es immer schwerer, sich einen Stellvertreter zu erkaufen. Durch Empfehlung meines Oheims hatte ich Zutritt in einige vornehme Familien erhalten, und der Sohn von[93] einer derselben wurde bald mein Freund. Eines Abends kam er in größter Bestürzung in die Apotheke und klagte mir sein Leid, daß er übermorgen sich stellen und, da er ohne alle körperliche Fehler sei, wahrscheinlich Soldat werden müsse. ›Ich möchte mir die Hand verstümmeln, um nicht in diesen schändlichen Krieg zu ziehen,‹ seufzte er. Das ist nicht nöthig, bemerkte ich; vertrauen Sie mir, ich glaube imstande zu sein, sie auf ganz kurze Zeit so zu verstümmeln, daß man Sie ohne weiteres laufen läßt. ›Was wollen Sie denn mit mir vornehmen?‹ – Ich mache Sie blind auf vierundzwanzig Stunden. – ›Wie wollen Sie das anfangen?‹ – Hören Sie mich! Vor etwa acht Wochen hatte ich nach ärztlicher Vorschrift eine Arznei zu bereiten, wo eingekochter Bilsenkrautsaft in Wasser aufzulösen war. Es geschah dieß in einer Reibschale, und aus Unvorsichtigkeit spritzte mir ein Tropfen der Auflösung ins Auge. Ich empfand keinen Schmerz und bemerkte anfangs keine Veränderung, bis endlich ein Jucken und Flimmern im Auge mich zum Spiegel trieb. Wie groß war mein Erstaunen, als ich die eingetretene Veränderung meines Auges sah! Die Regenbogenhaut war fast gänzlich verschwunden, und das Auge sah genau so aus, wie das eines Menschen, der am schwarzen Staar leidet. Auch die Sehkraft war ungemein geschwächt, was ich erst bemerkte, als ich das gesunde Auge schloß. Ich weiß nicht, wie es zuging, daß mich dieser mißliche Zustand [94] meines Auges nicht ängstlich machte. Er hielt mehrere Tage an. Endlich kam aber die Sehkraft wieder und mit ihr die naturgemäße Ausbreitung der Regenbogenhaut, sodaß nun beide Augensterne wieder gleiche Größe hatten und alles wieder in den vorigen Zustand zurückgekehrt war. Sehen Sie! eine solche Krankheit will ich Ihnen aus beiden Augen hervorbringen, und es müßte wunderbar zugehen, wenn Sie nicht schon nach oberflächlicher Besichtigung als unbrauchbar zum Dienst entlassen würden. – Nach einigen leicht beseitigten Einwürfen entschloß sich mein Freund zu dieser, damals gewiß sehr verzeihlichen Betrügerei und rettete dadurch sein Leben; denn von allen, die aus Lübeck mit nach Rußland geschleppt wurden, sind nur wenige wiedergekehrt. Seine zeitweilige Blindheit dauerte etwa sechsunddreißig Stunden, sie verging schmerzlos und hinterließ auch nicht die geringsten Folgen.
Nachdem Goethe mir seine größte Zufriedenheit sowol über die Erzählung des durch scheinbaren schwarzen Staar Geretteten, wie auch über das andere ausgesprochen, übergab er mir noch eine Schachtel mit Kaffeebohnen, die ein Grieche ihm als etwas ganz Vorzügliches gesandt. ›Auch diese können Sie zu Ihren Untersuchungen brauchen,‹ sagte Goethe. Er hatte recht; denn bald darauf entdeckte ich darin das, wegen seines großen Stickstoffgehaltes so berühmt gewordene Coffein.
Nun entließ er mich. Ohne recht zu wissen wie, war ich zur Thüre hinaus und die Treppe hinunter, [95] als Goethe mir noch nachrief: ›Sie vergessen Ihren Famulus!‹ und der Diener mir den kleinen Kater in den Arm legte, der während unserer Unterredung ruhig auf dem Sopha gesessen hatte.«
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