1820, 9. October.


Mit Carl E. von Weltzien

Soeben komme ich von Goethe und muß noch ganz warm es Dir [v. Seidlitz] sogleich erzählen ..... Diesen hatte ich in Weimar anzutreffen geglaubt, er [69] befindet sich aber noch immer, der schönen Witterung wegen, in seinem Sommeraufenthalt zu Jena. Heute Morgen vor 9 Uhr ging ich zu ihm, von Sivers... bis an die Thüre begleitet. Ich zitterte unterwegs am ganzen Leibe, im Gefühl, daß ich zum größten und berühmtesten Manne ging, den ich ja bisher gesehen, und für den ich keine passende Materie zur Unterhaltung wußte, den man außerdem mir als stolz und patzig verschrieen hatte. Goethes Wohnung in Jena, am botanischen Garten gelegen, ist nichts weniger als hübsch, sondern sieht sehr schofelig von außen aus, dagegen sein Haus in Weimar sehr geschmackvoll eingerichtet sein soll. Ich faßte mir endlich ein Herz, ging hinein und ließ mich anmelden. Ich wurde sogleich vorgelassen .... Goethe hält sich gewöhnlich in einem Zimmer eine Treppe hoch auf, welches blau angestrichen und mit vielen Kupferstichen behängt ist. Im Zimmer selbst sieht es ziemlich liederlich aus: alle Tische und Fenster liegen voll Kalender, Bücher etc. Nebenan stößt eine Schlafkammer, wie es scheint, in welche ich mich beim Weggehen verirrte, von Goethe aber freundlich zurechtgewiesen wurde.

Obgleich es noch früh war und Goethe Vormittags nie ausgehen soll, so fand ich ihn doch ganz in Gala in seinem Zimmer allein auf- und niedergehen. Er hatte einen schwarzen feinen Frack an, worauf der große Stern der Ehrenlegion 1 prangte, schwarze Pantalons [70] nebst Stiefeln, eine weiße Weste und sehr feine Manschetten, sodaß ich noch immer nicht begreifen kann, wie ein Mann in seinem Alter sich zu Hause solchen Zwang anthut. Sein Gesicht hat ungeachtet der tiefen Furchen und Runzeln, welche 72 Lebensjahre hineingegraben haben, einen außerordentlichen Ausdruck, den ich aber ganz anders fand, als ich ihn erwartete: nichts von Arroganz, nichts von Menschenverachtung, sondern etwas ganz Unnennbares, wie es Männern eigen zu sein pflegt, die durch vielfältige Erfahrungen und Schicksale und gleichsam im Kampf durch das Leben gegangen sind und nun im Gefühl ihrer wohlerhaltenen Integrität mit beneidenswerther Gemüthsruhe der Zukunft entgegensehn. In diesen Ausdruck mischt sich bei Goethe ein unverkennbarer Zug von Herzensgüte und zugleich ein anderer von besiegter ehemaliger Leidenschaftlichkeit, welche noch in dem unstäten Wesen seines Blicks sich offenbart. Sein großes helles Auge heftete er während des Gesprächs oft auf mich, sowie ich aber aufblickte und seinem Blicke begegnete, wandte er diesen gleich ab und ließ ihn unstät herumschweifen. Diesem Ganzen verleiht das graue Haar einen noch größern Zauber.

Ich wurde gegen meine Erwartung freundlich und human aufgenommen. Wir sprachen stehenden Fußes zuerst von Klinger, dann von meiner Reise und dem herrlichen Rhein, wo besonders Goethe seine große Bewunderung des Doms zu Köln aussprach; zuletzt von [71] der Universität Jena. Ich brachte auch den Gruß von Morgenstern an, worauf Goethe mit einem, ich möchte sagen schalkhaften Lächeln dankte, ohne etwas zu erwiedern. Als ich aber Kurt Sprengel's Gruß überbrachte, ergoß er sich in ein fast ungestümes Lob dieses großen Mannes, den er seinen lieben Freund und den ehrwürdigsten unter den medicinischen deutschen Gelehrten nannte.

Nach 15-20 Minuten empfahl ich mich.


Note:

1 Irrig: des Falkenordens.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1820. 1820, 9. October. Mit Carl E. von Weltzien. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A07F-D