1824, 3. April.


Mit Friedrich von Müller
und Friedrich Wilhelm Riemer

Von 6 1/2 – 8 1/2 war ich mit Riemer bei ihm. Er dankte sehr für Mittheilungen interessanter Pariser Blätter, verbat sie sich aber doch, weil sie ihn zu sehr zerstreuten und gleichwohl nicht genug förderten. »Quatremère de Quincy«, sagte er, »hat im richtigen Gefühl, daß die gewöhnliche Nachahmungstheorie falsch sei, eine Formel gesucht, aber die richtige nicht gefunden.«

Die Nachahmung der Natur durch die Kunst ist um so glücklicher, je tiefer das Object in den Künstler eingedrungen und je größer und tüchtiger seine Individualität selbst ist. Ehe man andern etwas darstellt, muß man den Gegenstand erst in sich selbst neu producirt haben.

Darauf kam er auf Geh. Rath Wolf zu sprechen. »Dieser Freund ist,« äußerte er, »oft der unverträglichste, unleidlichste aller Sterblichen durch sein ewiges Negiren; deßhalb bin ich so oft mit ihm zerfallen. Wenn er kommt, ist es als wenn ein beißiger Hund, ein reißendes Ungethüm ins Haus träte. Ich kann wohl auch [62] bestialisch sein und verstehe mich gar sehr darauf; aber es ist doch verdrießlich, die rauhe Seite herauskehren zu müssen. Oft hatte ich etwas von ihm gelernt; wenn ich es nach zwei Tagen wieder vorbrachte, behandelte er es wie die größte Absurdität. Einst war ich mit ihm im Bade zu Tennstedt, als mein Geburtstag herannahte, da betrog ich ihn um einen ganzen Tag im Kalender und machte, daß er am 27. August abreiste; denn mir war Angst, er würde mir an meinem Geburtstage ableugnen, daß ich geboren sei.« Bitter klagte er über den gestörten häuslichen Frieden durch Ulrikens höchst bedenklichen Unfall. Doch wer nicht verzweifeln kann, muß nicht leben; nur feige sich ergeben, sei ihm das Verhaßteste. »Ich will nicht hoffen und fürchten, wie ein gemeiner Philister,« setzte er hinzu; »daher ist das Geschwätz der Ärzte und ihr Trösten mir am allermeisten zuwider.«

Klinger's Erklärung 1 in den öffentlichen Blättern gegen Glower zu Gunsten Goethes freute ihn sehr. Er verglich sie mit Hutten's Schrift »Epistolae obscurorum virorum« zu Gunsten Reuchlin's. Großes Lob spendete er Wieland's schönen Billets, die er mir lesen zu lassen versprach.


Note:

1 Sie bezieht sich auf die pseudonyme Schrift »Goethe als Mensch und Schriftsteller«. Eine Erklärung Klinger's steht z.B. in der Abendzeitung 1824 Nr. 81.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1824. 1824, 3. April. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A0CF-A