1811, 4. Mai.


Mit Sulpiz Boisserée u.a.

Mit dem alten Herrn geht mir's vortrefflich: bekam ich auch den ersten Tag nur einen Finger, den andern hatte ich schon den ganzen Arm. Vorgestern, als ich eintrat, hatte er die Zeichnungen von Cornelius vor sich. »Da sehen sie einmal, Meyer!« sagte er zu diesem, der auch hereinkam, »die alten Zeiten stehen[6] leibhaftig wieder auf.« Der alte kritliche Fuchs murmelte (ganz wie Tieck ihn nachmacht, ohne die geringste Übertreibung); er mußte der Arbeit Beifall geben, konnte aber den Tadel über das auch angenommene Fehlerhafte in der altdeutschen Zeichnung nicht verbeißen. Goethe gab das zu, ließ es aber als ganz unbedeutend liegen und lobte mehr, als ich erwartet hatte. Sogar der Blocksberg gefiel ihm; die Bewegung des Arms, wo Faust ihn der Gretchen bietet, und die Scene in Auerbachs Keller nannte er besonders gute Einfälle. Vor der Technik hatte Meyer alle Achtung, freute sich, daß der junge Mann sich so heraufgearbeitet habe. Ich gab zu verstehen, daß Cornelius sich über seinen Beifall doppelt freuen würde, weil er bei dem schlechten Licht, worin sich manche Nachahmer des Alten gesetzt, gefürchtet, diese Art allein würde ihm schon nachtheilig sein. Gäbe nun aber Goethe etwas dergleichen Lob, so wäre das umsomehr werth, weil man dabei von der höchsten Unbefangenheit überzeugt sei, und daher könne er auch mit um so besserem Nachdruck und Erfolg die wirklichen Fehler rügen.

Bei Tisch kam die Rede auf allerlei: auf Lezay, auf Reinhard; sie haben der Prinzeß Stephanie ihre Zeichnungen gezeigt; Reinhard hat mir etwas davon verrathen. Ich fragte ihn nach dem »Diego« von Kettenburg; »das ist ein Schillerus redivivus,« antwortete er, »eine Stimme aus dem Grabe, ganz ohne Kraft und Mark.« Je weiter wir in's Essen und [7] Trinken kamen, desto mehr thaute er auf. Nach Tisch wurde auf dem Flügel gespielt; ein Baron Oliva von Wien, Kapellmeister, wenn ich recht gehört, trug einiges vor; es war das kleine höfliche Männchen von Tags zuvor. In dem Musiksaal hingen Runge's Arabesken, oder symbolische allegorische Darstellungen von Morgen, Mittag, Abend und Nacht. Goethe merkte, daß ich sie aufmerksam betrachtete, griff mich in den Arm und sagte: »Was! kennen Sie das noch nicht? Da sehen Sie einmal, was das für Zeug ist! Zum Rasendwerden! Schön und toll zugleich.« Ich antwortete: Ja, ganz wie die Beethovensche Musik, die der da spielt; wie unsere ganze Zeit. »Freilich,« sagte er, »das will alles umfassen und verliert sich darüber immer in's Elementarische, doch noch mit unendlichen Schönheiten im einzelnen. Da sehen Sie nur! was für Teufelszeug! und hier wieder, was da der Kerl für Anmuth und Herrlichkeit hervorgebracht! Aber der arme Teufel hat's auch nicht ausgehalten; er ist schon hin. Es ist nicht anders möglich: wer so auf der Kippe steht, muß sterben oder verrückt werden; da ist keine Gnade.« Ich schreibe Dir dieses Gespräch nur, um Dir die Vertraulichkeit und den Eifer des alten Herrn zu schildern; Du kannst denken, daß es viel mannigfaltiger war und sehr vieles dabei wechselseitig zur Rede kam ..... Nachher kamen wir auf die Philosophie, auf Deutschland, auf unsere Aussichten, auf deutsche Bildung zu sprechen. Er sagte: »Sie glauben [8] nicht: für uns Alte ist es zum Tollwerden, wenn wir da so um uns herum die Welt müssen vermodern und in die Elemente zurückkehren sehen, daß – weiß Gott wann? – ein Neues daraus erstehe.« Und doch, sagte ich, ist es noch der einzige Trost, daß wir Jungen, als Leichenträger, gleichsam das Bessere, was in der Pest noch übrig bleibt, die alten Schätze der Bildung, zu retten suchen und mit der Zeit, vielleicht erst in unsern Enkeln die Schulmeister und so auch die Herren der jungen Völker werden, die uns einst beherrschen sollen; alle anderen Hoffnungen und Bestrebungen sind leer. »Was Sie da aussprechen, das ist das Rechte,« sagte er, »aber die Dinge so anzusehen, dazu gehört Charakter; denn zur Resignation gehört Charakter.« – es ist natürlich nicht möglich, solche Gespräche in ihrer ganzen Folge wiederzugeben, zumal nicht in der Eile, in der ich schreiben muß.

[9]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1811. 1811, 4. Mai. Mit Sulpiz Boisserée u.a.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A0D9-1