1826, 17. Mai, Nachmittag.


Mit Friedrich von Müller
und Sulpiz Boisserée

Am 17. Mai traf ich Sulpice Boisserée bei Goethe, dessen Besuch ihn sehr erfreute.

Ottilie konnte sich noch nicht sehen lassen, ein unglücklicher Fall hatte ihr Gesicht getroffen, und Goethe hatte sich bis jetzt selbst noch immer gescheut, ihr entstelltes Antlitz zu sehen; »Denn,« sagte er, »ich werde [283] solche häßliche Eindrücke nicht wieder los, sie verderben mir für immer die Erinnerung.

Ich bin hinsichtlich meines sinnlichen Auffassungsvermögens so seltsam geartet, daß ich alle Umrisse und Formen aufs schärfste und bestimmteste in der Erinnerung behalte, dabei aber durch Mißgestaltungen und Mängel mich aufs lebhafteste afficirt finde. Der schönste kostbarste Kupferstich, wenn er einen Flecken oder Bruch bekommt, ist mir sofort unleidlich. Wie könnte ich mich aber über diese oft freilich peinliche Eigenthümlichkeit ärgern, da sie mit andern erfreulichen Eigenschaften meiner Natur innigst zusammenhängt? Denn ohne jenes scharfe Auffassungs-und Eindrucksvermögen könnte ich ja auch nicht meine Gestalten so lebendig und scharf individualisirt hervorbringen. Diese Leichtigkeit und Präcision der Auffassung hat mich früher lange Jahre hindurch zu dem Wahne verführt, ich hätte Beruf und Talent zum Zeichnen und Malen; erst spät gewahrte ich, daß es mir an dem Vermögen fehlte, in gleichem Grade die empfangenen Eindrücke nach außen wiederzugeben.«

Ich entgegnete, daß ihn wohl auch das Schwierige und Zeitraubende der mechanischen und technischen Erfordernisse abgeschreckt haben könne; allein dies läugnete er, indem er behauptete: wozu wahres Talent vorhanden, da bahne es sich auch zu entsprechender Entfaltung seinen Weg, und finde trotz aller Hindernisse die rechten Mittel dazu.

[284]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1826. 1826, 17. Mai, Nachmittag. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A141-D