1826, Juli sowie früher.


Mit Friedrich Preller

Von Goethe ging ich niemals weg, ohne eine Anregung oder eine gute Lehre mit nach Hause zu bringen. Da ich von Zeit zu Zeit die in der Natur gefertigten Blätter, die farbigen sowohl als die mit Blei gezeichneten, dem alten Herrn vorlegte, kam ich einmal an einem Vormittage mit meiner Mappe zu ihm. Er setzte sich an seinen gewöhnlichen Platz am großen Tisch, nahm mir die Mappe ab, ließ mich neben sich setzen und sah ruhig Blatt für Blatt durch, ohne einen andern Laut, als das gewöhnliche, sehr hörbare Hm! Beim letzten Blatt räusperte er sich [299] sehr stark, daß ich einen Schreck bekam, und begann folgendermaßen: »Ich sehe mit wahrer Freude, daß Ihnen die Natur am Herzen liegt, doch damit Sie sich mit ihrem Wesen im Ganzen vertraut machen können, will ich Ihnen einen Rath geben. In der ganzen Natur ist kein Product, heiße es wie es wolle, ohne irgend eine Beziehung zu einem andern in seiner Nähe stehenden. Um Ihnen ein durchaus deutliches Beispiel zu geben, merken Sie genau auf beisammenstehende Bäume oder geringere Pflanzen. Die, welche dicht beisammen sind, entwickeln sich ganz anders, als solche, welche größeren Raum zwischen sich haben. Auch der Boden, auf welchem sich die Pflanze entwickelt, ist von höchster Bedeutung, daher muß der angehende Künstler auch nach dieser Seite hin die Augen wohl aufthun. Ich sehe, daß Sie die Gegenstände alle scharf characterisiren, es sind aber herausgerissene Einzelheiten. Zeichnen oder malen Sie niemals irgend einen Gegenstand allein, sondern fügen Sie stets seine nächste Nachbarschaft bei, und wenn das oft auch nur mit ein paar Strichen geschieht: in kurzer Zeit werden Sie schon bemerken, wie sich Ihre Kenntniß der Natur erweitert hat. In der Farbengebung ist es nun nichts andres: mit dem einen wird Ihnen auch das andre klar werden.« – Wie sehr Goethe hierin recht hatte, habe ich durch mein ganzes Leben erfahren.

»Ihre Natur« – sagte er ein ander mal, »neigt vorzugsweise zum Wilden und Sterilen hin und wird [300] Sie daher an Poussin weisen, aber um nicht einseitig zu werden, muß man auch das sich anzueignen suchen, was nicht in unserer Natur liegt. Vergessen Sie daher neben dem Naturstudium auch den andern großen Meister, den Claude Lorrain, nicht. Sie werden von allen lernen; dafür bürgt mir Ihr Streben.«

Und wieder ein ander mal, als ich mich vor der Abreise nach Italien von ihm verabschiedete: »Sie kom men in ein Land, wo die Schönheit deutlicher, verständlicher ist, als bei uns. Aber fürs erste ist Ihnen alles fremd. Haben Sie die Augen offen, und befleißigen Sie sich, immer klar in dem zu sein, was Sie wollen! Möge es Ihnen gut gehen!« Und damit reichte er mir die Hand zum Lebewohl.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1826. 1826, Juli sowie früher. Mit Friedrich Preller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A15D-2