1826, 29. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

Der erste deutsche Improvisator, Dr. Wolff aus Hamburg, ist seit mehreren Tagen hier ..... Ich sprach Dr. Wolff gestern Abend, nachdem er mittags vor Goethe improvisirt hatte. Er war sehr beglückt und äußerte, daß diese Stunde in seinem Leben Epoche machen würde, indem Goethe ihn mit wenigen Worten auf eine ganz neue Bahn gebracht und in dem, was er an ihm getadelt, den Nagel auf den Kopf getroffen hätte.

Diesen Abend nun, als ich bei Goethe war, kam das Gespräch sogleich auf Wolff. »Dr. Wolff ist sehr glücklich,« sagte ich, »daß Euer Excellenz ihm einen guten Rath gegeben.«

»Ich bin aufrichtig gegen ihn gewesen,« sagte Goethe, »und wenn meine Worte auf ihn gewirkt und ihn angeregt haben, so ist das ein sehr gutes Zeichen. Er ist ein entschiedenes Talent, daran ist kein Zweifel, allein er leidet an der allgemeinen Krankheit der jetzigen Zeit, an der Subjectivität, und davon möchte ich ihn heilen. Ich gab ihm eine Aufgabe, um ihn zu versuchen. Schildern Sie mir, sagte ich, Ihre Rückkehr nach Hamburg. Dazu war er nun sogleich bereit und fing auf der Stelle in wohlklingenden Versen zu sprechen an. Ich mußte ihn bewundern, [264] allein ich konnte ihn nicht loben. Nicht die Rückkehr nach Hamburg schilderte er mir, sondern nur die Empfindungen der Rückkehr eines Sohnes zu Eltern, Anverwandten und Freunden, und sein Gedicht konnte ebenso gut für eine Rückkehr nach Merseburg und Jena als für eine Rückkehr nach Hamburg gelten. Was ist aber Hamburg für eine ausgezeichnete, eigenartige Stadt, und welch' ein reiches Feld für die speciellsten Schilderungen bot sich ihm dar, wenn er das Object gehörig zu ergreifen gewußt und gewagt hätte!«

Ich bemerkte, daß das Publicum an solcher subjectiven Richtung schuld sei, indem es allen Gefühlssachen einen entschiedenen Beifall schenke.

»Mag sein,« sagte Goethe; »allein wenn man dem Publicum das Bessere giebt, so ist es noch zufriedener. Ich bin gewiß, wenn es einem improvisirenden Talent wie Wolff gelänge, das Leben großer Städte, wie Rom, Neapel, Wien, Hamburg und London mit aller treffenden Wahrheit zu schildern, und so lebendig, daß sie glaubten, es mit eigenen Augen zu sehen, er würde alles entzücken und hinreißen. Wenn er zum Objectiven durchbricht, so ist er geborgen; es liegt in ihm, denn er ist nicht ohne Phantasie. Nur muß er sich schnell entschließen und es zu ergreifen wagen.«

»Ich fürchte,« sagte ich, »daß dieses schwerer ist als man glaubt; denn es erfordert eine Umwandlung der ganzen Denkweise. Gelingt es ihm, so wird auf[265] jeden Fall ein augenblicklicher Stillstand in der Production eintreten, und es wird eine lange Übung erfordern, bis ihm auch das Objective geläufig und zur zweiten Natur werde.«

»Freilich,« erwiederte Goethe, »ist dieser Überschritt ungeheuer; aber er muß nur Muth haben und sich schnell entschließen. Es ist damit wie beim Baden die Scheu vor dem Wasser: man muß nur rasch hineinspringen und das Element wird unser sein.

Wenn einer singen lernen will,« fuhr Goethe fort, »sind ihm alle diejenigen Töne, die in seiner Kehle liegen, natürlich und leicht; die andern aber, die nicht in seiner Kehle liegen, sind ihm anfänglich äußerst schwer. Um aber ein Sänger zu werden, muß er sie überwinden; denn sie müssen ihm alle zu Gebote stehen. Ebenso ist es mit einem Dichter solange er bloß seine wenigen subjectiven Empfindungen ausspricht, ist er noch keiner zu nennen, aber sobald er die Welt sich anzueignen und auszusprechen weiß, ist er ein Poet. Und dann ist er unerschöpflich und kann immer neu sein, wogegen aber eine subjective Natur ihr bißchen Inneres bald ausgesprochen hat und zuletzt in Manier zu Grunde geht.

Man spricht immer vom Studium der Alten, allein was will das anders sagen als: Richte dich auf die wirkliche Welt und suche sie auszusprechen; denn das thaten die Alten auch, da sie lebten.«

Goethe stand auf und ging im Zimmer auf und ab,[266] während ich, wie er es gern hat, auf meinem Stuhle am Tische sitzen blieb. Er stand einen Augenblick am Ofen, dann aber, wie einer, der etwas bedacht hat, trat er zu mir heran, und den Finger an den Mund gelegt, sagte er folgendes:

»Ich will Ihnen etwas entdecken, und Sie werden es in Ihrem Leben vielfach bestätigt finden. Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjectiv, dagegen aber haben alle vorschreitenden Epochen eine objective Richtung. Unsere ganze jetzige Zeit ist eine rückschreitende, denn sie ist eine subjective. Dieses sehen Sie nicht bloß an der Poesie, sondern auch an der Malerei und vielem andern. Jedes tüchtige Bestreben dagegen wendet sich aus dem Innern hinaus auf die Welt, wie Sie an allen großen Epochen sehen, die wirklich im Streben und Vorschreiten begriffen und alle objectiver Natur waren.«

Die ausgesprochenen Worte gaben Anlaß zu der geistreichsten Unterhaltung, wobei besonders der großen Zeit des funfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts gedacht wurde.

Das Gespräch lenkte sich sodann auf das Theater und das Schwache, Empfindsame und Trübselige der neuern Erscheinungen. »Ich tröste und stärke mich jetzt an Molière,« sagte ich. »Seinen ›Geizigen‹ habe ich übersetzt und beschäftige mich nun mit seinem ›Arzt wider Willen‹. Was ist doch Molière für ein großer, reiner Mensch!« – »Ja,« sagte Goethe, »reiner [267] Mensch, das ist das eigentliche Wort, was man von ihm sagen kann; es ist an ihm nichts verbogen und verbildet. Und nun diese Großheit! Er beherrschte die Sitten seiner Zeit, wogegen aber unsere Iffland und Kotzebue sich von den Sitten der ihrigen beherrschen ließen und darin beschränkt und befangen waren. Molière züchtigte die Menschen, indem er sie in ihrer Wahrheit zeichnete.«

»Ich möchte etwas darum geben,« sagte ich, »wenn ich die Molière'schen Stücke in ihrer ganzen Reinheit auf der Bühne sehen könnte, allein dem Publicum, wie ich es kenne, muß dergleichen viel zu stark und natürlich sein. Sollte diese Überverfeinerung nicht von der sogenannten idealen Literatur gewisser Autoren herrühren?«

»Nein,« sagte Goethe, »sie kommt aus der Gesellschaft selbst. Und dann, was thun unsere jungen Mädchen im Theater? Sie gehören gar nicht hinein, sie gehören ins Kloster, und das Theater ist bloß für Männer und Frauen, die mit menschlichen Dingen bekannt sind. Als Molière schrieb, waren die Mädchen im Kloster, und er hatte auf sie gar keine Rücksicht zu nehmen.

Da wir nun aber unsere jungen Mädchen schwerlich hinausbringen und man nicht aufhören wird, Stücke zu geben, die schwach und eben darum diesen recht sind, so seid klug und macht es wie ich und geht nicht hinein.

[268] Ich habe am Theater nur so lange ein wahrhaftes Interesse gehabt, als ich dabei praktisch einwirken konnte. Es war meine Freude, die Anstalt auf eine höhere Stufe zu bringen, und ich nahm bei den Vorstellungen weniger Antheil an den Stücken, als daß ich darauf sah, ob die Schauspieler ihre Sachen recht machten oder nicht. Was ich zu tadeln hatte, schickte ich am andern Morgen dem Regisseur auf einem Zettel, und ich konnte gewiß sein, bei der nächsten Vorstellung die Fehler vermieden zu sehen. Nun aber, wo ich beim Theater nicht mehr praktisch einwirken kann, habe ich auch keinen Beruf mehr hineinzugehen. Ich müßte das Mangelhafte geschehen lassen, ohne es verbessern zu können, und das ist nicht meine Sache.

Mit dem Lesen von Stücken geht es mir nicht besser. Die jungen deutschen Dichter schicken mir immerfort Trauerspiele; allein was soll ich damit? Ich habe die deutschen Stücke immer nur in der Absicht gelesen, ob ich sie könnte spielen lassen; übrigens waren sie mir gleichgültig. Und was soll ich nun in meiner jetzigen Lage mit den Stücken dieser jungen Leute? Für mich selbst gewinne ich nichts, indem ich lese, wie man es nicht hätte machen sollen, und den jungen Dichtern kann ich nicht nützen bei einer Sache, die schon gethan ist. Schickten sie mir statt ihrer gedruckten Stücke den Plan zu einem Stück, so könnte ich wenigstens sagen, mache es, oder mache es nicht, [269] oder mache es so, oder mache es anders, und dabei wäre doch einiger Sinn und Nutzen.

Das ganze Unheil entsteht daher, daß die poetische Cultur in Deutschland sich so sehr verbreitet hat, daß niemand mehr einen schlechten Vers macht. Die jungen Dichter, die mir ihre Werke senden, sind nicht geringer als ihre Vorgänger, und da sie nun jene so hoch gepriesen sehen, so begreifen sie nicht, warum man sie nicht auch preist. Und doch darf man zu ihrer Aufmunterung nichts thun, eben weil es solcher Talente jetzt zu Hunderten giebt und man das Überflüssige nicht befördern soll, während noch so viel Nützliches zu thun ist. Wäre ein einzelner, der über alle hervorragte, so wäre es gut; denn der Welt kann nur mit dem Außerordentlichen gedient sein.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1826. 1826, 29. Januar. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A17C-B