1809 (?).


Über Heinrich von Kleist
und Gotthold Ephraim Lessing

Einst kam das Gespräch auf Kleist und dessen »Käthchen von Heilbronn«. Goethe tadelt an ihm die nordische Schärfe des Hypochonders; es sei einem gereiften Verstande unmöglich, in die Gewaltsamkeit solcher Motive, wie er sich ihrer als Dichter bediene, mit Vergnügen einzugehen. Auch in seinem »Kohlhaas«, artig erzählt und geistreich zusammengestellt, wie er sei, [293] komme doch alles gar zu ungefüg. Es gehöre ein großer Geist des Widerspruches dazu, um einen so einzelnen Fall mit so durchgeführter, gründlicher Hypochondrie im Wettlaufe geltend zu machen. Es gebe ein Unschönes in der Natur, ein Beängstigendes, mit dem sich die Dichtkunst bei noch so kunstreicher Behandlung weder befassen, noch aussöhnen könne. Und wieder kam er zurück auf die Heiterkeit, auf die Anmuth, auf die fröhlich bedeutsame Lebensbetrachtung italienischer Novellen, mit denen er sich damals, je trüber die Zeit um ihn aussah, desto angelegentlicher beschäftigte.

Dabei brachte er in Erinnerung, daß die heitersten jener Erzählungen ebenfalls einem trüben Zeitraume, wo die Pest regierte, ihr Dasein verdankten. »Ich habe ein Recht,« fuhr er nach einer Pause fort, »Kleist zu tadeln, weil ich ihn geliebt und gehoben habe; aber sei es nun, daß seine Ausbildung, wie es jetzt bei vielen der Fall ist, durch die Zeit gestört wurde, oder was sonst für eine Ursache zum Grunde liege; genug, er hält nicht, was er zugesagt. sein Hypochonder ist gar zu arg; er richtet ihn als Menschen und Dichter zugrunde. Sie wissen, welche Mühe und proben ich es mir kosten ließ, seinen ›Wasserkrug‹ auf's hiesige Theater zu bringen. Daß es dennoch nicht glückte, lag einzig in dem Umstande, daß es dem übrigens geistreichen und humoristischen Stoffe an einer rasch durchgeführten Handlung fehlt.

[294] Mir aber den Fall desselben zuzuschreiben, ja, mir sogar, wie es im Werte gewesen ist, eine Ausfoderung deßwegen nach Weimar schicken zu wollen, deutet, wie Schiller sagt, auf eine schwere Verirrung der Natur, die den Grund ihrer Entschuldigung allein in einer zu großen Reizbarkeit der Nerven oder in Krankheit finden kann. Das ›Käthchen von Heilbronn‹«, fuhr er fort, indem er sich zu mir wandte, »da ich Ihre gute Gesinnung für Kleist kenne, sollen Sie lesen und mir die Hauptmotive davon wiedererzählen. Nach diesem erst will ich einmal mit mir zurathe gehen, ob ich es auch lesen kann. Beim Lesen seiner ›Penthesilea‹ bin ich neulich gar zu übel weggekommen. Die Tragödie grenzt in einigen Stellen völlig an das Hochkomische, z.B. wo die Amazone mit Einer Brust auf dem Theater erscheint und das Publicum versichert, daß alle ihre Gefühle sich in die zweite, noch übriggebliebene Hälfte geflüchtet hätten, ein Motiv, das auf einem neapolitanischen Volkstheater im Munde einer Colombine, einem ausgelassenen Polichinell gegenüber, keine üble Wirkung auf das Publicum hervorbringen müßte, wofern ein solcher Witz nicht auch dort durch das ihm beigesellte widerwärtige Bild Gefahr liefe, sich einem allgemeinem Mißfallen auszusetzen.«

Von Lessing's Verdienst, Talent und Scharfsinn, und wie derselbe allem höhern dramatischen Bestreben in Deutschland, Friedrich dem Großen, Voltaire, Gottsched und allen Verehrern des französischen[295] Theaters gegenüber, in seiner »Hamburgischen Dramaturgie« die Bahn brach und zugleich durch Einführung des Shakespeare eine neue Periode begründete, die mit dem künftigen Aufschwunge unserer Literatur auf's innigste zusammenhing, sprach Goethe mit der größten Anerkennung. Als Exposition habe vielleicht die ganze neue dramatische Kunst nichts so Unvergleichliches aufzuweisen, als die ersten beiden Aufzüge der »Minna von Barnhelm«, wo Schärfe des Charakters, ursprünglich deutsche Sitte mit einem raschen Gange in der Handlung auf's innigste verbunden sei. Nachher sinke freilich das Stück und vermöge kaum nach dem einmal angelegten Plane sich in solcher Höhe zu behaupten; das könne aber dies Lob weder schmälern, noch sollte man es deßhalb zurücknehmen. In der »Emilie Galotti« sei ebenfalls das Motiv meisterhaft und zugleich höchst charakteristisch, daß der Kammerherr dem Prinzen Emilie Galotti sicher auf seinem Wege zugeführt haben würde; daß aber der Prinz dadurch, daß er in die Kirche geht und in den Handel hineinpfuscht, dem Marinelli und sich selber das Spiel verdirbt. Nicht minder schön sei die Art, wie Lessing das Schicksal in der »Emilie Galotti« einführt. Ein Billet, das der Prinz an seine ehemalige Geliebte, die Gräfin Orsina, schrieb, und worin er sich ihren Besuch auf morgen verbittet, wird eben dadurch, daß es zufällig liegen blieb – wenn Zufall, wie die Gräfin selbst sogleich hinzusetzt, in solchen Dingen nicht Gotteslästerung [296] genannt werden müßte – die gelegentliche Ursache, daß die gefürchtete Nebenbuhlerin, weil man ihr nicht abgesagt, gerade in demselben Augenblicke ankommt, wo Graf Apiani erschossen, die Braut in das Lustschloß des Fürsten durch Marinelli eingeführt und so dem Mörder ihres Bräutigams in die Hände geliefert wird. »Dieß sind Züge einer Meisterhand, welche hinlänglich beurkunden, wie diese Blicke Lessing in das Wesen der dramatischen Kunst vergönnt waren. Auch seid versichert, wir wissen recht wohl, was wir ihm und seinesgleichen, insbesonbere Winckelmann, schuldig sind.«

[297]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1809. 1809 (?). Über Heinrich von Kleist. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A18B-9