1827, 9. Juli.


Mit Johann Peter Eckermann

Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gipspasten nach dem Stosch'schen Kabinet. »Man ist in Berlin so freundlich gewesen,« sagte er, »mir diese ganze Sammlung zur Ansicht herzusenden; ich kenne die schönen Sachen schon dem größten Theile nach, [154] hier aber sehe ich sie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann sie geordnet hat; auch benutze ich seine Beschreibung und sehe seine Meinung nach in Fällen, wo ich selber zweifle.«

Wir hatten nicht lange geredet, als der Kanzler hereintrat und sich zu uns setzte. Er erzählte uns Nachrichten aus öffentlichen Blättern, unter andern von einem Wärter einer Menagerie, der aus Gelüste nach Löwenfleisch einen Löwen getödtet und sich ein gutes Stück davon zubereitet habe. »Mich wundert,« sagte Goethe, »daß er nicht einen Affen genommen hat, welches ein gar zarter schmackhafter Bissen sein soll.« Wir sprachen über die Häßlichkeit dieser Bestien, und daß sie desto unangenehmer, je ähnlicher die Rasse dem Menschen sei. »Ich begreife nicht,« sagte der Kanzler, »wie fürstliche Personen solche Thiere in ihrer Nähe dulden, ja vielleicht gar Gefallen daran finden können.«

– »Fürstliche Personen,« sagte Goethe, »werden so viel mit widerwärtigen Menschen geplagt, daß sie die widerwärtigen Thiere als ein Heilmittel gegen dergleichen unangenehme Eindrücke betrachten. Uns andern sind Affen und Geschrei der Papageien mit Recht widerwärtig, weil wir diese Thiere hier in einer Umgebung sehen, für die sie nicht gemacht sind; wären wir aber in dem Falle, auf Elefanten unter Palmen zu reiten, so würden wir in einem solchen Element Affen und Papageien ganz gehörig, ja vielleicht gar erfreulich finden. Aber, wie gesagt, die Fürsten haben recht, [155] etwas Widerwärtiges mit etwas noch Widerwärtigerm zu vertreiben.« – »Hierbei,« sagte ich, »fällt mir ein Vers ein, den Sie vielleicht selber nicht mehr wissen:

›Wollen die Menschen Bestien sei,
So bringt nur Thiere zur Stube herein:
Das Wiederwärtige wird sich mindern;
Wir sind eben alle von Adams Kindern‹.«

Goethe lachte. »Ja,« sagte er, »es ist so. Eine Roheit kann nur durch eine andere ausgetrieben werden, die noch gewaltiger ist. Ich erinnere mich eines Falles aus meiner frühern Zeit, wo es unter den Adeligen hin und wieder noch recht bestialische Herren gab, daß bei Tafel in einer vorzüglichen Gesellschaft und in Anwesenheit von Frauen ein reicher Edelmann sehr massive Reden führte zur Unbequemlichkeit und zum Ärgerniß aller, die ihn hören mußten. Mit Worten war gegen ihn nichts auszurichten. Ein entschlossener ansehnlicher Herr, der ihm gegenübersaß, wählte daher ein anderes Mittel, indem er sehr laut eine grobe Unanständigkeit beging, worüber alle erschraken und jener Grobian mit, sodaß er sich gedämpft fühlte und nicht wieder den Mund aufthat. Das Gespräch nahm von diesem Augenblick an eine anmuthige heitere Wendung zur Freude aller Anwesenden, und man wußte jenem entschlossenen Herrn für seine unerhörte Kühnheit vielen Dank in Erwägung der trefflichen Wirkung, die sie gethan hatte.«

Nachdem wir uns an dieser heitern Anekdote ergötzt [156] hatten, brachte der Kanzler das Gespräch auf die neuesten Zustände zwischen der Oppositions- und der ministeriellen Partei zu Paris, indem er eine kräftige Rede fast wörtlich recitirte, die ein äußerst kühner Demokrat zu seiner Vertheidigung vor Gericht gegen die Minister gehalten. Wir hatten Gelegenheit, das glückliche Gedächtniß des Kanzlers abermals zu bewundern. Über jene Angelegenheit und besonders das einschränkende Preßgesetz ward zwischen Goethe und dem Kanzler viel hin und wieder gesprochen; es war ein reichhaltiges Thema, wobei sich Goethe wie immer als milder Aristokrat erwies, jener Freund aber wie bisher scheinbar auf der Seite des Volks festhielt.

»Mir ist für die Franzosen in keiner Hinsicht bange,« sagte Goethe; »sie stehen auf einer solchen Höhe welthistorischer Ansicht, daß der Geist auf keine Weise mehr zu unterdrücken ist. Das einschränkende Gesetz wird nur wohlthätig wirken, zumal da die Einschränkungen nichts Wesentliches betreffen, sondern nur gegen Persönlichkeiten gehen. Eine Opposition, die keine Grenzen hat, wird platt. Die Einschränkung aber nöthigt sie geistreich zu sein, und dies ist ein sehr großer Vortheil Direct und grob seine Meinung herauszusagen, mag nur entschuldigt werden können und gut sein, wenn man durchaus recht hat. Eine Partei aber hat nicht durchaus recht, eben weil sie Partei ist, und ihr steht daher die indirecte Weise wohl, worin die Franzosen von je große Muster waren. [157] Zu meinem Diener sage ich geradezu: ›Hans, zieh mir die Stiefel aus!‹ Das versteht er. Bin ich aber mit einem Freunde und ich wünsche von ihm diesen Dienst, so kann ich mich nicht so direct ausdrücken, sondern ich muß auf eine anmuthige, freundliche Wendung sinnen, wodurch ich ihn zu diesem Liebesdienst bewege. Die Nöthigung regt den Geist auf, und aus diesem Grunde, wie gesagt, ist mir die Einschränkung der Preßfreiheit sogar lieb. Die Franzosen haben bisher immer den Ruhm gehabt, die geistreichste Nation zu sein, und sie verdienen es zu bleiben. Wir Deutschen fallen mit unserer Meinung gern gerade heraus und haben es im Indirecten noch nicht sehr weit gebracht.

Die Pariser Parteien,« fuhr Goethe fort, »könnten noch größer sein als sie sind, wenn sie noch liberaler und freier wären und sich gegenseitig noch mehr zugeständen als sie thun. Sie stehen auf einer höhern Stufe welthistorischer Ansicht als die Engländer, deren Parlament gegeneinanderwirkende gewaltige Kräfte sind, die sich paralysiren, und wo die große Einsicht eines einzelnen Mühe hat durchzudringen, wie wir an Canning und den vielen Quengeleien sehen, die man diesem großen Staatsmanne macht.«

Wir standen auf, um zu gehen. Goethe aber war so voller Leben, daß das Gespräch noch eine weile stehend fortgesetzt wurde. Dann entließ er uns liebevoll und ich begleitete den Kanzler nach seiner Wohnung. Es war ein schöner Abend, und wir sprachen [158] im Gehen viel über Goethe. Besonders aber wiederholten wir uns gern jenes Wort, daß eine Opposition ohne Einschränkung platt werde.

[159]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1827. 1827, 9. Juli. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A22D-6