1809, nach 20. Mai.


Mit Friedrich Kohlrausch,
Wolf Graf Baudissin und Gustav Hugo

Baudissin und ich waren Hausfreunde bei Hugo geworden und brachten manchen gemüthlichen Abend bei ihm zu. Im Frühjahr 1809 machte er uns den Vorschlag, in den Pfingstferien eine Reise zusammen[303] nach Weimar und Jena zu unternehmen, bei welcher Gelegenheit er uns auch mit Goethe und Wieland bekannt zu machen versprach. Wir gingen natürlich mit großer Freude auf den Gedanken ein und traten mit ihm in einem Göttinger Hauderer die Reise an .... In Weimar angekommen erfuhren wir, daß Goethe, wie gewöhnlich im Anfange des Sommers, seinen Aufenthalt in dem, vom Geräusche des Hofes entfernten stilleren Jena genommen habe, und begaben uns daher ebenfalls dorthin. Außer der gewichtigen Protection von Hugo hatten wir uns aber noch mit andern Empfehlungsmitteln bei Goethe versehen, die vielleicht noch wirksamer waren. Als Zuhörer in einigen Vorlesungen von Sartorius über Politik und Finanzwissenschaft waren wir auch mit diesem Professor näher bekannt geworden und erhielten von ihm zur Überbringung an Goethe die isländische Nibelungensage (Niflunga Saga) von der Göttinger Bibliothek mit auf die Reise und daneben noch als eine freundliche Zugabe einen sehr schön gestrickten seidenen Geldbeutel von der Frau Hofräthin [Sartorius], die sich ebenfalls der Gunst Goethes erfreute. So ausgerüstet, zögerten wir nicht, uns bei Goethe melden zu lassen, und wurden nicht nur angenommen, sondern auch, nachdem ich ihm den Folianten und Baudissin den Geldbeutel überreicht hatte, mit einem sehr freundlichen Danke beglückt. Ja, Goethe ging in seiner Artigkeit soweit, uns, da er in seinem Junggesellenlogis im Jenaer Schlosse keinen gesellschaftlichen [304] Raum habe, auf den Mittag nach dem Essen um 2 Uhr zu einem Rendezvous auf dem Mineraliencabinet einzuladen, wo er gern Fremde zu empfangen pflege. Hugo sollte natürlich mit eingeladen sein.

Wir beeilten unser Essen, um den rechten Augenblick nicht zu versäumen. Hugo fand aber keine Zeit, seine gewohnte Nachmittagsruhe zu halten, und ging etwas schläfrig und verdrossen mit uns. Der Anblick seines Zustandes weckte in Goethe sogleich die Lust zum Necken und erforderte daher Hugo nach der ersten Begrüßung auf, einen kritischen juristischen Fall zu entscheiden. »Ich habe« – sagte er – »eine Partie seltener Gipsabgüsse von Antiken aus Dresden verschrieben, die Kisten kommen an und das Beste darin ist zerbrochen: wer soll nun den Schaden tragen?« – »Natürlich Sie, der Besteller,« war die Antwort. – »Aber, mein Gott! ich, der unschuldigste Mann an dem ganzen Unglücke, soll die zerbrochenen Scherben als heil bezahlen? Ihr Juristen seid doch das wunderlichste Volk auf der Welt!« – »Ja, das römische Recht verfügt es so, wenn Sie nicht beweisen können, daß der Absender die Sachen schlecht verpackt, oder der Fuhrmann Fehler gemacht hat, so müssen Sie bezahlen; Sie waren von dem Augenblicke der Absendung an Eigenthümer der bestellten Sachen.« – Goethe gab sich aber nicht zufrieden, sondern neckte Hugo mit humoristischen Einwendungen, bis dieser durch seinen juristischen Eifer [305] ganz lebendig geworden war, und nun nahm die Unterhaltung einen andern Verlauf.

Es war die Zeit der ersten Kämpfe zwischen den Franzosen und Österreichern in den Donaugegenden in dem Kriege von 1809, und wir jungen Leute waren von der Erhebung des österreichischen Volkes und den Proclamationen des Erzherzoges Karl mit begeistert .... Am Tische in unserm Gasthofe wollte man von großen Siegen der Österreicher Nachricht haben, und daß die Leichen der Franzosen bis nach Wien geschwommen seien. Wir gaben unsere Nachrichten mit Lebhaftigkeit zum besten. »Ja, ja!« bemerkte Goethe mit Kopfschütteln, »es ist endlich einmal gut eingeheizt bei uns Deutschen; es kommt nur darauf an, wie lange das Holz vorhält. Sehen Sie: wenn Sie in einer Gesellschaft sind, in welcher ein alter Jude, ein Taschenspieler, seine Kunststücke macht und verkündigt, er wolle Ihre Uhr in einem Mörser zerstoßen und doch wieder heil machen, so werde ich wetten, daß er es fertig bringt. So habe ich auch bis jetzt auf Napoleon gewettet; er versteht es doch besser, als die andern.« – Dieser Vergleich, der gerade nicht von der Verehrung zeugte, die Goethe gegen Napoleon hegen sollte, veranlaßte mich, Goethe zu fragen, ob Napoleon bei der Zusammenkunft in Erfurt im Jahre 1808 ihm wirklich eine treffende Bemerkung über den ›Werther‹ gemacht habe, wie man erzählte. Goethe erwiederte: »Allerdings hat er mir eine solche Bemerkung gemacht, die [306] von seinem Urtheile zeugte. Ich kann sie nur damit vergleichen: wenn ein Frauenzimmer eine Naht beurtheilen will, ob sie fein und gleichmäßig genäht ist, so prüft sie dieselbe nicht mit den Augen allein, sondern sie läßt sie langsam durch den Daumen und Zeigefinger gleiten. Von einer solchen Prüfung zeugte Napoleon's Bemerkung über einen Zug im ›Werther‹.« Damit brach er diese Unterhaltung ab und schlug uns vor, ihn später bei einem Spaziergange in dem botanischen Garten zu treffen.

Hugo trennte sich von uns, vielleicht um doch noch seiner Nachmittagsruhe ihr Recht zu gönnen, und wir andern gingen zur verabredeten Zeit in den botanischen Garten, wobei sich auch mein Freund Abeken, der damals als Lehrer der Schiller'schen Kinder in Weimar lebte und mit uns nach Jena gefahren war, uns anschloß; er war in solcher Weise mit Goethe bekannt, daß er es thun durfte. Wir trafen Goethen schon im Garten auf- und abgehend mit einer einfachen Blume in der Hand, die er betrachtete, vielleicht über das große Gesetz der Metamorphose sinnend, welches er so tiefsinnig entwickelt hat. Nach einigen Gängen im Garten setzte sich Goethe mit uns auf eine Bank und ließ sich auf Gespräche über literarische Erscheinungen ein. Die Rede kam auf Kotzebue, und wir glaubten in Goethes Sinne zu reden, wenn wir Kotzebue's Leichtfertigkeit und Seichtigkeit mit möglichst scharfen Worten tadelten. »Nun, nun, ihr jungen Leute! Nur nicht gleich das [307] Kind mit dem Bade ausgeschüttet!« unterbrach er unsere beredten Auslassungen; »wenn dieser Kotzebue den gehörigen Fleiß in der Ausbildung seines Talents und bei der Anfertigung seiner dramatischen Sachen angewendet hätte, so konnte er unser bester Lustspieldichter werden. Und auch das Sentimentale hat er in seiner Gewalt: die Zwiebel, mit welcher man den Leuten das Wasser in die Augen lockt, weiß er zu gebrauchen wie wenige.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1809. 1809, nach 20. Mai. Mit Friedrich Kohlrausch,. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A246-C