1806 oder 1807.


Mit Heinrich Luden

Nach der Schlacht bei Jena erkundigte ich mich bei jeder Gelegenheit, wie es Goethen in den unglücklichen Tagen gegangen wäre, und alle Erkundigungen brachten mich zu dem Glauben, daß auch Er sein Kreuz zu tragen gehabt und den Jammer getheilt hätte, den ein siegreicher Feind, übermüthig und trotzig, wie über die Besiegten, so über die wehrlosen Angehörigen der Besiegten zu bringen pflegt. Etwa vier Wochen nach dem unglücklichen Tage fand ich Goethe bei Knebel. Er war zum ersten Mal wieder in Jena. 1 Sein Gesicht war sehr ernst, und seine Haltung bewies, daß auch auf ihm der Druck der Zeit lag. »Der Mann,« sagte Knebel, »hat's empfunden.« – »›Ich habe schon gehört,‹« fügte Goethe zu mir gewendet hinzu, »›daß Sie sehr hart mitgenommen sind.‹« Ich konnte mein Schicksal in wenige Worte zusammenfassen und that es. »Von allem,« sagte ich, »was wir während meiner Anwesenheit nach Jena geschafft hatten, und was ich bei meiner Abreise zurückließ, habe ich nicht das Geringste wiedergefunden bei meiner Zurückkunft, einige zerbrochene Kisten, Kasten und Koffer ausgenommen. Ich habe den Schmerz gehabt, meine junge Frau in eine völlig [155] leere und kalte Wohnung einzuführen, die kaum nothdürftig gereinigt war von abscheulichem Schmutze.« Herr v. Knebel rief aus und nicht zum ersten Male: »es ist greulich! es ist ungeheuer!« Goethe aber sagte einige Worte so leise, daß ich sie nicht verstand. Als ich hierauf Gelegenheit nahm, zu fragen, wie denn Se. Excellenz durch die Tage der Schmach und des Unglücks hindurchgekommen, antwortete Goethe mit folgenden Worten: »›Ich habe gar nicht zu klagen; etwa wie ein Mann, der von einem festen Felsen hinab in das tobende Meer schauet und den Schiffbrüchigen zwar keine Hülfe zu bringen vermag, aber auch von der Brandung nicht erreicht werden kann, und nach irgend einem Alten soll das sogar ein behagliches Gefühl sein;‹« – »nach Lukrez!« rief Knebel hinein 2 – »›so habe ich wohlbehalten dagestanden und den wilden Lärm an mir vorübergehen lassen.‹« Ich will nicht leugnen: bei diesen Worten, in der That mit einer gewissen Behaglichkeit ausgesprochen, lief mir einige Kälte über die Brust hinweg. Aber sie war schnell verflogen, und da Knebel kein Wort sagte, sondern sich mit seiner gewöhnlichen Beweglichkeit abgewendet etwas zu thun machte, so erlaubte ich mir das Schweigen zu unterbrechen: »Zuletzt ist es auch nicht der Mühe werth, von meinem Verlust zu sprechen. Er ist mir nur verdrießlich, weil ich zur Zeit noch jeden Augenblick daran erinnert werde; denn ich bin in meinen Arbeiten unterbrochen [156] und gestört, ich kann die alten nicht fortsetzen und keine neuen beginnen, weil es mir an allem nothwendigen Geräth und Gezeug gebricht. Überhaupt verschwindet das Unglück der einzelnen, der Städte, Gemeinden und Familien, vor dem ungeheueren Unglücke, das auf Deutschland, unserem Vaterlande liegt. Mich drückt und quält lediglich die Zeit der Schmach und Schande, die über uns eingebrochen ist, die uns bevorsteht. Wäre die Schlacht bei Jena gewonnen worden, gern hätte ich jegliches Opfer dargebracht und auch nackt und bloß den fliehenden Feinden nachgejubelt. Und dann: alles was mir genommen worden, kann ersetzt werden. Das beste ist mir doch geblieben, und solange wir selbst sind und die Berge da feststehen und die ewige Sonne scheint, so lange gebe ich nicht verloren weder meine eigene Sache noch die Sache des Vaterlandes.« Knebel antwortete mit einigen Ausrufungen: »Bravo! So recht!« und dergleichen; Goethe aber sagte kein Wort und verzog keine Miene. Hierauf lenkte Knebel das Gespräch auf etwas Literarisches; ich aber beurlaubte mich bald.


Note:

1 Ich finde nicht, daß Goethe nach der Schlacht eher, als im Mai 1807 nach Jena gekommen sei

Note:

2 De rerum natura, II, 1 sqq.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1806. 1806 oder 1807. Mit Heinrich Luden. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A29D-A