1830, 8. Juni.


Mit Friedrich von Müller

Nachmittags von 4 bis 6 Uhr war ich bei ihm, wo ich ihn sehr heiter und mittheilend fand. »Ich bin wohl spät vernünftig geworden, aber ich bin es nun doch.« Er theilte mir die Reiseroute seines Sohnes an den Comersee und die Borromäischen Inseln mit. »Eckermann versteht am besten literarische Productionen mir zu extorquiren durch den verständigen Antheil, den er an dem bereits Geleisteten, bereits Begonnenen nimmt. So ist er vorzüglich Ursache, daß ich den ›Faust‹ fortsetze, daß die zwei ersten Acte des zweiten Theils beinahe fertig sind.«

Ich nahm Anlaß ihn an die Vollendung des vierten Theils seiner Memoiren zu erinnern. Er sagte: »In ruhigen vier Wochen könnte ich wohl damit zu Stande kommen, aber jetzt beschäftigt mich meine neue Edition der Pflanzen-Metamorphose allzusehr. Übrigens wird der vierte Theil nur das Jahr 1775 umfassen, aber einen wichtigen, inhaltvollen, gleichsam bräutlichen Zustand derselben darstellen, eine Hauptkrisis meines Lebens.«

Das ›Glaubensbekenntniß eines Denkgläubigen‹[314] nannte er, obwohl nicht mißbilligend, eine betrübende Erscheinung, weil sie auf Halbheit und kümmerlicher Accommodation beruhe. Man müsse entweder den Glauben an die Tradition festhalten, ohne sich auf ihre Kritik einzulassen, oder wenn man sich der Kritik ergebe, jenen Glauben aufgeben. Ein drittes sei nicht gedenkbar. »Mir bleibt Christus immer ein höchst bedeutendes, aber problematisches Wesen.

Die Menschheit steckt jetzt in einer religiösen Krisis; wie sie durchkommen will, weiß ich nicht, aber sie muß und wird durchkommen.

Seit die Menschen einsehen lernen, wie viel dummes Zeug man ihnen aufgeheftet, und seit sie anfangen zu glauben, daß die Apostel und Heiligen auch nicht bessere Kritik als solche Bursche wie Klopstock, Lessing und wir andern armen Hundsfötter gewesen, muß es natürlich wunderlich in den Köpfen sich kreuzen.

Mein Vater war ein tüchtiger Mann, aber freilich fehlte ihm Gewandtheit und Beweglichkeit des Geistes. Er ließ mich mit meinen Possen gewähren; obgleich alterthümlicher gesinnt in religiöser Hinsicht, nahm er doch kein Arg an meinen Speculationen und Ansichten, sondern erfreute sich seines Sohnes als eines wunderlichen Kauzes. Er tadelte nur den Leichtsinn und die geringe Achtung, mit denen ich meine Leistungen behandelte; zu mancher kleinen Zeichnung zog er selbst die Einfassungslinie, oder klebte sie auf und gab Rahmen dazu.«

[315]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1830. 1830, 8. Juni. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A2AE-2