1830, 21. März.


Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe zu Tische. Er spricht zunächst über die Reise seines Sohnes, und daß wir uns über den Erfolg keine zu große Illusion machen sollen. »Man kommt gewöhnlich zurück wie man gegangen ist,« sagte er, »ja man muß sich hüten, nicht mit Gedanken zurückzukommen, die später für unsere Zustände nicht passen. So brachte ich aus Italien den Begriff der schönen Treppen zurück, und ich habe dadurch offenbar mein Haus verdorben, indem dadurch die Zimmer alle kleiner ausgefallen sind als sie hätten sollen. Die Hauptsache ist, daß man lerne sich selbst zu beherrschen. Wollte ich mich ungehindert gehen lassen, so läge es wohl in mir, mich selbst und meine Umgebung zu Grunde zu richten.«

Wir sprachen sodann über krankhafte körperliche[275] Zustände und über die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist.

»Es ist unglaublich,« sagte Goethe, »wie viel der Geist zur Erhaltung des Körpers vermag. Ich leide oft an Beschwerden des Unterleibs, allein der geistige Wille und die Kräfte des obern Theils halten mich im Gange. Der Geist muß nur dem Körper nicht nachgeben! So arbeite ich bei hohem Barometerstande leichter als bei tiefem; da ich nun dieses weiß, so suche ich bei tiefem Barometer durch größere Anstrengung die nachtheilige Einwirkung aufzuheben, und es gelingt mir.

In der Poesie jedoch lassen sich gewisse Dinge nicht zwingen, und man muß von guten Stunden erwarten, was durch geistigen Willen nicht zu erreichen ist. So lasse ich mir jetzt in meiner ›Walpurgisnacht‹ Zeit, damit alles die gehörige Kraft und Anmuth erhalten möge. Ich bin gut vorgerückt und hoffe es zu vollenden, bevor Sie gehen.

Was darin von Piquen vorkommt, habe ich so von den besondern Gegenständen abgelöst und ins Allgemeine gespielt, daß es zwar dem Leser nicht an Beziehungen fehlen, aber niemand wissen wird, worauf es eigentlich gemeint ist. Ich habe jedoch gestrebt, daß alles, im antiken Sinne, in bestimmten Umrissen dastehe, und daß nichts Vages, Ungewisses vorkomme, welches dem romantischen Verfahren gemäß sein mag.

[276] Der Begriff von classischer und romantischer Poesie, der jetzt über die ganze Welt geht und so viel Streit und Spaltungen verursacht,« fuhr Goethe fort, »ist ursprünglich von mir und Schiller ausgegangen. Ich hatte in der Poesie die Maxime des objectiven Verfahrens und wollte nur dieses gelten lassen, Schiller aber, der ganz subjectiv wirkte, hielt seine Art für die rechte, und um sich gegen mich zu wehren, schrieb er den Aufsatz über naive und sentimentale Dichtung. Er bewies mir, daß ich selber wider Willen romantisch sei und meine ›Iphigenie‹, durch das Vorwalten der Empfindung, keineswegs so classisch und im antiken Sinne sei, als man vielleicht glauben möchte. Die Schlegel ergriffen die Idee und trieben sie weiter, sodaß sie sich denn jetzt über die ganze Welt ausgedehnt hat und nun jedermann von Classicismus und Romanticismus redet, woran vor funfzig Jahren niemand dachte.«

Ich lenkte das Gespräch wieder auf den Cyklus der zwölf Figuren, und Goethe sagte mir noch einiges zur Ergänzung.

»Den Adam müßte man bilden wie ich gesagt, jedoch nicht ganz nackt, indem ich ihn mir am besten nach dem Sündenfall denke; man müßte ihn mit einem dünnen Rehfellchen bekleiden. Und zugleich, um auszudrücken, daß er der Vater der Menschheit, so würde man wohlthun, ihm seinen ältesten Sohn beizugeben, einen trotzigen, kühn um sich blickenden Knaben, einen [277] kleinen Hercules, in der Hand eine Schlange erdrückend.

Auch wegen Noah habe ich einen andern Gedanken gehabt, der mir besser gefällt; ich würde ihn nicht dem indischen Bacchus anähneln, sondern ich würde ihn als Winzer darstellen, wobei man sich eine Art von Erlöser denken könnte, der, als erster Pfleger des Weinstocks, die Menschheit von der Qual der Sorgen und Vedrängnisse freimachte.«

Ich war beglückt über diese guten Gedanken und nahm mir vor, sie zu notiren.

Goethe zeigte mir sodann das Blatt von Neureuther zu seiner Legende vom Hufeisen. »Der Künstler,« sagte ich, »hat dem Heiland nur acht Jünger beigegeben.«

»Und schon diese acht,« fiel Goethe ein, »waren ihm zu viel, und er hat sehr klug getrachtet, sie durch zwei Gruppen zu trennen und die Monotonie eines geistlosen Zugs zu vermeiden.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1830. 1830, 21. März. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A2E1-C