1821, 22. Januar.


Mit Friedrich von Müller

Als ich eintrat, heftete Goethe eben Correcturbögen zusammen. Doch nicht von Meisters Wanderjahren? sagte ich, aufgeregt durch einen Artikel der Frankfurter Zeitung. »Und warum nicht?« erwiderte Goethe, und so kam ich bald darüber zur Gewißheit, ohne meine Zweifel zu verrathen. Dieß gab zu näherem Gespräch über Wilhelm Meister Anfaß, den Goethe jetzt nach langen, langen Jahren erst mit Übersprung des ersten Theils wieder gelesen. Schon vor seiner italienischen Reise sei er größtentheils fertig gewesen. Es mache ihm Freude und Beruhigung zu finden, daß der ganze Roman durchaus symbolisch sei, daß hinter den vorgeschobenen Personen durchaus etwas Allgemeines, Höheres verborgen liege. Lange sei das Buch mißverstanden worden, sogar anstößig gewesen. »Die guten Deutschen,« äußerte er, »brauchen immer gehörige Zeit, bis sie ein vom Gewöhnlichen abweichendes Werk verdaut, sich zurecht geschoben, genüglich reflectirt hätten. Erst in ihren Unglückstagen zu Memel hat die mir früher nicht sonderlich wohlwollende Königin Louise von Preußen den W. Meister liebgewonnen und immer wieder gelesen. Sie mochte wohl finden, daß er tief genug in der Brust und gerade da anklopfte, wo der wahre menschliche Schmerz und die wahre Lust, [76] wo eigentliches Leid und Freude wohnen. Noch ohnlängst hat mir die Herzogin von Cumberland versichert, daß die Königin durch die Thränen, die sie über jene Stelle in Mignon's Lied:

Wer nie sein Brod mit Thränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt Euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

vergoß, sich ungemein erleichtert gefunden habe. Bei jetziger Wiederlesung meines Romans hätte ich fast zu mir selbst – wie einst zu Ariosto der Cardinal von Este – sagen mögen: Meister Ludwig, wo Henker, habt Ihr all' das tolle Zeug hergenommen? Der ›Meister‹ belegt, in welcher entsetzlichen Einsamkeit er verfaßt worden, bei meinem stets auf's allgemeinste gerichteten Streben. Wilhelm ist freilich ein armer Hund, aber nur an solchen lassen sich das Wechselspiel des Lebens und die tausend verschiedenen Lebensaufgaben recht deutlich zeigen, nicht an schon abgeschlossenen festen Charakteren.«

Goethe war sehr unzufrieden, daß ich nicht Tags vorher an Riedels 1 Grab gesprochen; ich hätte alles Bedenken beseitigen, noch im letzten Augenblicke mich zum Improvisiren entschließen, den Mantel wie eine Verhüllung abwerfen und frei und ergreisend vortreten und sprechen müssen; da würden leicht unvertilgbare [77] Eindrücke hervorzurufen gewesen sein. »Doch« sagte er, »man muß auch regrets im Leben haben.«

Von den vielfältigen auswärtigen Mittheitungen, die er täglich erhalte, äußerte er: »Ja, es leben gar viele seine, tüchtige und Treffliches erstrebende Menschen in Deutschland umher, die so manches, was ich früher nur angedeutet, verarbeitet und weiter gefördert haben, wenn gleich in ihrem, wenn gleich oft in ganz anderem Sinn. Man erkennt dann oft den eignen Samen kaum wieder, aber was gut daran war, wuchert fort und bricht sich Bahn durch alle Hemmungen.«


Note:

1 Geh. Kammer-Rath in Weimar: Cornel. Joh. Rudolf.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1821. 1821, 22. Januar. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A34C-7