1815, letztes Drittel im September.
Mit Georg Friedrich Kreuzer
Eines Nachmittags begegneten wir [G. Parthey und Genossen] Creuzern oben auf dem Schlosse und begleiteten ihn durch einpaar Gänge. Er hielt ein Blatt des wunderbaren chinesischen oder japanischen Baumes Gingko biloba in der Hand, von dem ein Stämmchen im Schloßgarten steht. Dabei theilte er uns mit: er habe, als Goethe 1815 Heidelberg besuchte, mit diesem bei einem Spaziergange im Schlosse ein langes und interessantes Gespräch über die symbolische Deutung und Sinnigkeit der hellenischen mythologischen Personen und Erzählungen geführt; er habe versucht, Goethen auseinanderzusetzen, wie jede hellenische Gestalt doppelt anzusehen sei, weit hinter der bloßen [243] Realität ein höheres Symbol verborgen liege. Die einfachen Fälle seien bekannt genug: Ares als Kriegsgott bedeute auch den Krieg, Hebe als die Jugendgöttin auch die Jugend; es gebe aber entferntere Anwendungen davon: der Fluß, in dem die Jungfrauen baden, empfange gewissermaßen ihre Erstlinge, so habe es geschehen können, daß ein verwegener Lieb haber als Flußgott die Sache in buchstäbliche Erfüllung gebracht. Dies dürfe aber nicht bloß als eine Personification der Zustände betrachtet werden, sondern Doppelsinn sei allen antiken Mythen immanent, wenngleich nicht immer leicht herauszufinden. Den Glaubenden genügte das stricte Wortverhältnis, den Wissenden ward der höhere Sinn in geheimen Weihen aufgeschlossen. – Goethe ging auf diese Erörterung mit dem Eifer ein, als sie gerade bei dem Gingko biloba stillstanden; er pflückte ein Blatt und sagte: »Also ungefähr wie dieses Blatt: eins und doppelt.«
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