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Ich [Baudissin] habe Goethe gesehen!

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Dienstag [30. Mai] früh nach Jena, wo der große Mann, um allein und ungenirt zu sein, auf sechs Wochen hingegangen ist und an der Fortsetzung des »Meister« schreibt. Wir schickten ihm den Brief, den Sartorius in Göttingen uns mitgegeben hatte, wie auch einen sehr schönen Geldbeutel von dessen Frau und ein Buch von der Göttinger Bibliothek, an dem ihm sehr viel gelegen war, und er ließ uns sagen, wir möchten um drei aufs Mineraliencabinet kommen, weil das Zimmer, welches er im Schlosse bewohnt und in dem er ißt und schläft, gar zu schlecht sei. Ich[53] erwartete ihn wie ein Kind den heiligen Christ – endlich kam er und redete mich mit einer langen geläufigen Phrasis an, war äußerst höflich und fing an, in dem Mineraliencabinet herumzuzeigen. Ich verwünschte meine Unwissenheit in der Mineralogie und verwandte kein Auge von ihm. Ich schwöre, daß ich nie einen schöneren Mann von sechzig Jahren gesehen habe. Stirn, Nase und Augen sind wie vom Olympischen Jupiter, und letztere ganz unmalbar und unvergleichbar. Erst konnte ich mich nur erst an den schönen Zügen und der herrlichen braunen Gesichtsfarbe weiden; nachher aber, wie er anfing lebhafter zu erzählen und zu gesticuliren, wurden die beiden schwarzen Sonnen noch einmal so groß, und glänzten und leuchteten so göttlich, daß, wenn er zürnt, ich nicht begreife, wie ihre Blitze nur zu ertragen sind. Ich war in einem solchen Anstaunen und Anbeten, daß ich alle Blödigkeit rein vergaß. Mehrere Fremde haben über seine Härte und Steifigkeit geklagt, gegen uns ist er äußerst freundlich und human gewesen. Er hatte einen blauen Ueberrock an und gepudertes Haar ohne Zopf. Seine ehemaliche Corpulenz hat er verloren und seine Figur ist jetzt im vollkommensten Ebenmaß und von höchster Schönheit. Man kann keine schönere Hand sehen, als die seinige, und er gesticulirt beim Gespräch mit Feuer und entzückender Grazie. Seine Aussprache ist die eines Süddeutschen, der sich in Norddeutschland gebildet hat, welche mir immer die vorzüglichere scheint; [54] er spricht leise, aber mit einem herrlichen Organ und weder zu schnell noch zu langsam. Und wie kommt er in die Stube, wie geht er! Er ist ein geborner König der Welt. Wir waren fast zwei Stunden da, und er nöthigte uns einpaarmal zu bleiben, erzählte uns von seiner Schweizerreise und sprach mit Lachen und äußerst witzig von einem Prozeß, den er – wie Hugo sagte – von Gott- und Rechts wegen verloren hatte. Auch fing er an, welches ihm sonst sehr selten geschieht, über politische Dinge sich auszulassen, rühmte den Plan der Oesterreicher und bewunderte Napoleon, wie man freilich weiß. Zuletzt, als ich von Forkel und Zelter erzählt, sprach er gar über alte Musik und... herrlich. Ich hatte geäußert, wenn diese beiden stürben, wol die ganze Kunst untergehe, und da sagte er, das ächte Schöne ginge nie unter, sondern lebe immer in der Brust weniger Guten wie das Vestalische Feuer unauslöschlich fort.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1809. 1809, 30. und 31. Mai.: Mit Friedrich Kohlrausch,Wolf Graf Baudissin und Gustav Hugo. a.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A412-0