1830, 1. Juni.


Mit Felix Mendelssohn-Bartholdy

Felix .... bezeichnet selbst den folgenden Tag, den 1. Juni, als den allerschönsten, den er je dort im Hause verlebt; er berichtet, wie er nach einer Spazierfahrt durch den Park den alten Herrn in bester Laune antraf, wie derselbe in's Erzählen hineinkam und sich nun eins von den Gesprächen entspann, die man in seinem Leben nicht wieder vergißt. Goethe begann den jungen Freund mit seinen Halb- und Ganzpassionen für die Schönheiten von Weimar zu necken. ›Jenny von Pappenheim‹, meinte er, ›ist gar so schön, so unbewußt anmuthig und reizend wie irgend ein leuchtend Holz oder ein Glühwurm bei Tage, man weiß nicht, wo es steckt. Zwei andre Mädchen, die Spiegels, haben ausgesehen, als gucke man in ein Paar dicke Rosensträucher... Da hatte ich einen furchtbaren Blumenstrauch [184] in meinem Garten, der blühte ganz entsetzlich, und da standen die Mädchen davor, und man konnte nur sie ansehen.‹ Nun kam er auf »Die Stumme von Portici«, auf den Engländer Stendal und Walter Scott zu sprechen. ›Mr. Stendal ist ein mittlerer Geist, hat Verstand und hat auch was gelernt, aber das Beste, Erste fehlt ihm.‹ Waverley ist der beste Roman von Scott, worin alle seine folgenden Werke liegen, ohne brillant zu sein, passend unterhaltend; ebenso nachher die Fair maid of Perth. Daher ist es hübsch, wie er sich the Author of Waverley nennt. Ebenso fing Iffland mit seinen »Jägern« an, was seine Fehler und Tugenden enthält, und Kotzebue mit »Menschenhaß und Reue«, worüber noch jetzt ›alle Damen sich todtweinen, wenn auch so mancher Herr sich dabei im Kopfe kratzt.‹ – »Schiller,« bemerkte Felix, »hat doch nicht so angefangen.« – ›Schiller,‹ fuhr Goethe fort, ›mußte sich nach seinem Don Carlos ganz umwenden; denn auf dem Wege wäre es nicht fortgegangen, obwol noch jetzt die Leute so gern seine »Räuber« sehn, weil viele davon noch auf dieser verrückten tollen Stufe stehen. So baten mich, als ich in Lauchstädt Theaterdirector war, die Studenten um »Die Räuber«; ich wollt' es nicht, wegen möglichen Skandals, indeß da sie ihr Wort gaben, ruhig zu sein, so sagte ich: ihr seid hübsche Leute, charmante Menschen, wenn Ihr also recht still sein wollt, will ich's geben. Da war es denn sehr voll, das Publicum mäuschenstill, »Ein freies Leben«[185] wurde sogar mit Feierlichkeit gesungen, und da sie nun so artig gewesen waren und auch Geld eingebracht hatten, wurden sie am folgenden Tag gelobt. Schiller konnte, was ich gar nicht kann, etwas Unmittelbares in seine Arbeiten hineinnehmen: wie er »Tell« schrieb, schweizerische Gedichte lesen, Topographien in seinem Zimmer aufhängen, und dergleichen. Er hatte ein furchtbares Fortschreiten: wenn man ihn nach acht Tagen wiedersah, so fand man ihn anders und staunte und wußte nicht, wo man ihn anfassen könnte. So ging's immer vorwärts bis sechsundvierzig Jahr, da war es denn weit genug. Er hätte zwei Trauerspiele jährlich liefern können, aber mehr nicht, nur noch außerdem Übersetzungen, Musenalmanach und dergleichen. Denn 100 Carolin, das klingt gut und er brauchte es für sich und seine Frau; denn er hatte deswegen vom Herzog ein mäßiges Gehalt verlangt, aber ausgemacht, es müßte verdoppelt werden, sobald er untüchtig zum Arbeiten wäre. Das gab ihm denn der Herzog gerne, weil er überhaupt eine Art Geiz auf große Männer hatte und darin in Weimar mehr that, als ein König.‹ – »Es ist ihm auch belohnt worden,« äußerte Felix. ›Ja‹, sprach Goethe, ›sie können ihn nun nicht wieder aus der Weltgeschichte herausstoßen, in der er einmal steht. Schuckmann wollte er herhaben, und ich stand mit ihm in Correspondenz, auch Schlosser, von dem ich ihm aber abrieth, weil er zu eisern, stets auf seinem Standpunkte stehen bleibend, eine Art Pedant war, [186] obwol er mein Schwager war und ich also wenig Anlagen zum Nepotismus zeigte. Das kam denn alles wie in einem Brennpunkt hier zusammen. O, könnte ich nur bald einen vierten Band »Leben« schreiben! Aber man kommt ja nicht dazu vor Botanik und Wetterkunde und all dem andern dummen Zeug, das einem kein Mensch danken will. Es sollte nur eine Geschichte des Jahres 1775 werden, die kein Mensch so kennt und kein Mensch schreiben kann, als ich. Wie da der Abel sich vom Mittelstand anfing übertroffen zu fühlen und sich zusammennahm, um nicht zurückzubleiben; wie da Liberalism, Jakobinism und aller Teufelsspuk auftauchte; wie sich hier nun ein neues Leben bildete, und man arbeitete und hervorbrachte, sich dann einmal verliebte zu rechter Zeit und seine Tage verdarb; wie der Aristokratism der Berliner Herren Nicolai und der anderen, der damals viel galt, von uns jungen Leuten, die wir voll Lust und Thätigkeit, dann auch wol sehr ungeschickt waren, zurückgedrängt werden mußte; wie Schiller erst einmal zu Weimar war und von niemand gekannt es wieder verließ; wie Jean Paul später kam, aber den Kreis schon geschlossen fand; wie Bertuch auf's praktische gehn, alles Mögliche, was man verlangt hervorzubringen suchte und das Industriecomptoir gründete. Ja, da war es wie im Frühling, wo alles drängt und keimt und so mancher Baum noch kahl steht, andre schon Blätter haben. Alles das Jahr 1775!‹

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1830. 1830, 1. Juni. Mit Felix Mendelssohn-Bartholdy. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A414-C