1830, 24. April.


Mit Friedrich von Müller

Als ich von Rauch's zu hoffendem Besuch bei seiner Heimreise von München sprach, äußerte er. »Ich hoffe nicht, daß er komme; zu was soll das helfen? Es ist nur Zeitverderb. Es kommt nicht darauf an, daß die Freunde zusammenkommen, sondern darauf, daß sie übereinstimmen. Die Gegenwart hat etwas [299] Beengendes, Beschränkendes, oft Verletzendes, die Abwesenheit hingegen macht frei, unbefangen, weist Jeden auf sich selbst zurück. Was mir Rauch erzählen könnte, weiß ich längst auswendig.«

Als wir auf »Hernani« und die neue französische Schule kamen, bemerkte er: »Die Franzosen bekommen doch kein achtzehntes Jahrhundert wieder, sie mögen machen, was sie mögen, was haben sie etwas aufzuweisen, das mit Diderot zu vergleichen wäre? Seine Erzählungen wie klar gedacht, wie tief empfunden, wie kernig, wie kräftig, wie anmuthig ausgesprochen! Als uns dies durch Grimm's Correspondenz in einzelnen Fragmenten zukam, wie begierig faßte man es zu schätzen! Ja, da war noch eine Zeit, wo etwas Eindruck machte; jetzt läßt man alles leichtsinnig vorübergehen. Es will was heißen für die neueren Schriftsteller in Frankreich, sich von so großen Traditionen und Mustern, von einem so ausgebildeten, abgeschlossenen, großartigen Zustand loszureißen und neue Bahnen zu betreten!

Wir andern dummen Jungen von 1772 hatten leichteres Spiel, wir hatten nichts hinter uns, konnten frisch darauf losgehen und waren des Beifalls gewiß, wenn wir nur einigermaßen was Tüchtiges lieferten.«

Wir kamen auf Reiseprojecte und industrielle Unternehmungen zu sprechen, die er alle verwarf. Auf meine Bemerkung, daß er über diese Gegenstände sonst ganz anders gedacht, sagte er: »Ei, bin ich denn darum [300] 80 Jahre alt geworden, daß ich immer dasselbe denken soll? Ich strebe vielmehr täglich etwas Anderes, Neues zu denken, um nicht langweilig zu werden. Man muß sich immerfort verändern, erneuen, verjüngen, um nicht zu verstocken. Da hat mir jetzt so ein Über-Hegel aus Berlin seine philosophischen Bücher zugeschickt; das ist wie die Klapperschlange, man will das verdammte Zeug fliehen und guckt doch hinein. Der Kerl greift es tüchtig an, bohrt gewaltig in die Probleme hinein, von denen ich vor 80 Jahren so viel als jetzt wußte, und von denen wir alle nichts wissen und nichts begreifen. Jetzt habe ich diese Bücher versiegelt, um nicht wieder zum Lesen verführt zu werden.

Mit Briefantworten muß man nolens volens Bankerott machen, und nur unter der Hand diesen oder jenen Creditor befriedigen. Meine Maxime ist: wenn ich sehe, daß die Leute bloß ihretwegen an mich schreiben, etwas für ihr Individuum damit bezwecken, so geht mich das nichts an; schreiben sie aber meinetwegen, senden sie etwas mich Förderndes, Angehendes, dann muß ich antworten. So hat mir Rochlitz jetzt etwas gar Schönes über meinen zweiten römischen Aufenthalt geschrieben; da habe ich auch gleich geantwortet. Ihr jungen Leute wisset freilich nicht, wie kostbar die Zeit ist, sonst würdet ihr sie mehr achten.«

Im Ganzen war er heut' sehr lebhaft, aufgeregt,[301] geistreich, aber mehr ironisch und bizarr als gemüthlich, mehr negativ als positiv, mehr humoristisch als heiter. Nicht leicht habe ich seine Proteus-Natur sich in alle Formen zu verwandeln, mit Allem zu spielen, die entgegengesetztesten Ansichten aufzufassen und gelten zu lassen, anmuthiger hervortreten sehen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1830. 1830, 24. April. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A471-7