1808, 27. August.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Über Tische vom Charakter. Er sei, sagte Goethe, die Tüchtigkeit vis-à-vis von etwas Höherem, das er über sich erkenne, und seine Selbstschätzung. Der Charakter ruhe auf der Persönlichkeit, nicht auf dem Talente.

»Der Charakter ist eine psychische Gewohnheit, eine Gewohnheit der Seele, und seinem Charakter gemäß handeln, heißt seinen physischen und geistigen Gewohnheiten gemäß handeln; denn diese sind ihm allein bequem, und nur das Bequeme gehört uns eigentlich an.

Wer nicht nachgiebt, ob er schon einsieht, daß der andere Recht hat, heißt ein trotziger Charakter. Es wird ihm aber leichter, nicht nachzugeben (wie es mancher gewohnt ist, mit der linken Hand alles zu thun, was vielen schwer däucht), es ist seine Gewohnheit. Man muß Gewohnheit aber so verstehen: wir können uns eigentlich nichts angewöhnen, nichts was nicht eigentlich schon unser wäre; es ist nur das Wiederholen des ersten ursprünglichen Thuns, und der Charakter ist eigentlich vor aller Gewöhnung und Gewohnheit. Er erscheint uns nur als Gewohnheit; denn wir müssen etwas wiederkehren sehen, wenn wir wissen sollen, daß [214] es da ist, und diese Wiederkehr, dieses Wiederholen des Ersten und Einen heißen wir Gewohnheit.

Die gewöhnlichen Vorstellungsarten sind absurd. Man sagt: weil er das und das so oft gethan hat, ist es ihm zur Gewohnheit worden. Dies ist ein Idem per Idem. Es ist wie wenn ich sagte: weil ich den Handschuh so oft aus- und angezogen habe, ist er weit geworden. Wenn es nicht die Natur des Handschuhleders wäre, sich zu dehnen, so hätte ich ihn tausend und abertausendmal anziehen können, er wäre nicht weiter geworden. Warum wird es denn kein Stahlhandschuh, oder ein steinerner? ich mag sie noch so oft anziehen.

Nein! er hat es gethan, so oft und so oft, weil er's mußte, weil es seine Eigenschaft ist; und diese Eigenschaft erscheint uns als Gewohnheit, weil wir sie wiederholt sehen. Charakter ist also Eigenschaft und Gewohnheit zugleich. Jenes a priori angesehen; dieses, a posteriori.

Nimmt man das Willkürliche aus dem Leben und Handeln und Verfahren hinweg, so hat man das Beste hinweggenommen. Sei ich noch so weise und verständig und zweckmäßig: ich muß sterben wie der Aller unvernünftigste, wie der Thor. Und ich habe keine Freude davon gehabt, und andern keine damit gemacht.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1808. 1808, 27. August. Mit Friedrich Wilhelm Riemer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A5B2-D