1831, 27. August.


Mit Johann Christian Mahr und Goethes Enkeln

Am 26. August 1831 gegen Abend traf Goethe mit seinen beiden Enkeln und Bedienung im Gasthofe ›Zum [105] Löwen‹ hier [in Ilmenau] ein. Der reinste, von Wolken ungetrübte Himmel gewährte die trefflichste Witterung. Er hatte mir seine Ankunft gleich melden und mich, ihn zu besuchen, bitten lassen, doch kam ich erst spät Abend aus dem Kammerberger Steinkohlenbergwerk nach Hause, also besuchte ich ihn am 27. Morgens, wo er schon seit früh 4 Uhr an seinem Tische beschäftigt war. Seine Freude war, wie er sagte, sehr groß, die hiesige Gegend, welche er seit 30 Jahren nicht wieder besucht hatte, da er doch sonst sooft und soviel hier gewesen, wiederzusehen; seine beiden Enkel seien schon in Begleitung des Kammerdieners in die Berge gegangen und würden bis Mittag ausbleiben. Nach mehreren Erkundigungen, ob nicht wieder etwas in geognostischer Beziehung Merkwürdiges vorgekommen sei, fragte er dann: ob man wohl bequem zu Wagen auf den Gickelhahn fahren könne; er wünsche das auf dem Gickelhahn befindliche, ihm von früherer Zeit her sehr merkwürdige Jagdhäuschen zu sehen, und daß ich ihn auf dieser Fahrt begleiten möge. Also fuhren wir beim heitersten Wetter auf der Waldstraße über Gabelbach. Unterwegs ergötzte ihn der beim Chausseebau tief ausgehauene Melaphyrfels sowohl wegen seines merkwürdigen Vorkommens mitten im Feldsteinporphyr, als wegen des schönen Anblicks von der Straße aus. Weiterhin setzten ihn die, nach Anordnung des Oberforstraths König in den großherzoglichen Waldungen angelegten Alleen und geebneten Wege in ein freudiges Erstaunen, indem er sie mit den [106] früher äußerst schlechten, ihm sehr wohl bekannten Fahrstraßen auf den Wald verglich.

Ganz bequem waren wir so bis auf den höchsten Punkt des Gickelhahns gelangt, als er ausstieg, sich erst an der kostbaren Aussicht auf dem Rondel ergötzte, dann über die herrliche Waldung freute und dabei ausrief: »Ach, hätte doch dieses Schöne mein guter Großherzog Karl August noch einmal sehen können!« – Hierauf fragte er: »Das kleine Waldhaus muß hier in der Nähe sein. Ich kann zu Fuß dahin gehen und die Chaise soll hier so lange warten, bis wir zurückkommen.« Wirklich schritt er rüstig durch die, auf der Kuppe des Berges ziemlich hoch stehenden, Heidelbeersträucher hindurch bis zu dem wohlbekannten, zweistöckigen Jagdhause, welches aus Zimmerholz und Breterbeschlag besteht. Eine steile Treppe führt in den obern Theil desselben; ich erbot mich ihn zu führen, er aber lehnte es mit jugendlicher Munterkeit ab, ob er gleich Tags darauf seinen zweiundachtzigsten Geburtstag feierte, mit den Worten: »Glauben Sie ja nicht, daß ich die Treppe nicht Steigen könnte; das geht mit mir noch recht sehr gut.« Beim Eintritt in das obere Zimmer sagte er: »Ich habe in früherer Zeit in dieser Stube mit meinem Bedienten im Sommer acht Tage gewohnt und damals einen kleinen Vers hier an die Wand geschrieben. Wohl möchte ich diesen Vers nochmals sehen, und wenn der Tag darunter bemerkt ist, an welchem es geschehen, so haben Sie die Güte mir solchen aufzuzeichnen.« Sogleich [107] führte ich ihn an das südliche Fenster der Stube, an welchem links mit Bleistift geschrieben steht:

݆ber allen Gipfeln ist Ruh,
In allen Wipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.
Es schweigen die Vöglein im Walde;
Warte nur balde
Ruhest du auch.
D. 7. September 1780

Goethe.‹


Goethe überlas diese wenigen Verse, und Thränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen Tuchrock, trocknete sich die Thränen und sprach in sanftem, wehmüthigem Ton: »Ja: warte nur, balde ruhest du auch!« schwieg eine halbe Minute, sah nochmals durch das Fenster in den düstern Fichtenwald und wendete sich darauf zu mir mit den Worten: »Nun wollen wir wieder gehen!«

Ich bot ihm auf der steilen Treppe meine Hülfe an, doch erwiederte er: »Glauben Sie, daß ich diese Treppe nicht hinabsteigen könnte? Das geht noch sehr gut! Aber gehen Sie voraus, damit ich nicht hinuntersehen kann.« Wieder erwähnte er in dieser wehmüthigen Stimmung den Verlust seines »guten Großherzogs Karl August.«

Auf dem Rückwege nach der Allee, wo der Wagen wartete, fragte er, ob auf der Kuppe des Gickelhahns[108] auch das Vorkommen des verschmolzenen Quarzes, wie auf der Hohen Tanne bei Stützerbach stattfinde, worauf ich erwiederte, daß derselbe sehr zerklüftete bleiche Quarzporphyr ebenso wie dort auf jener Höhe vorkomme und solches fast allen höchsten Punkten des nordwestlichen Theiles des Thüringer Waldes eigenthümlich sei. Er sagte darauf: »Dies ist eine sonderbare und merkwürdige Erscheinung und kann vielleicht künftig zu bedeutenderen Schlüssen in der Geognosie Veranlassung geben. Wir sind überhaupt bloß da, um die Natur zu beobachten; erfinden können wir in derselben nichts. Daher können auch die meteorologischen Beobachtungen, wenn solche unermüdet fortgesetzt werden, gewiß noch zu bedeutenden Resultaten führen.« – Beim Wagen angelangt, ergötzte er sich nochmals an der herrlichen Aussicht und der köstlichen Umgebung, deren Anblick bei so reinem Himmel ein besonders günstiger war, setzte sich wieder in den Wagen und nöthigte mich, mich zu ihm zu setzen. So begleitete ich ihn wieder bis in den Gasthof ›Zum Löwen‹, auf welchem Wege mir noch manche köstliche Belehrung in seiner Kraftsprache zutheil wurde.

Bei seiner Ankunft waren die beiden Enkel bereits aus dem Gebirge zurückgekehrt. Goethe unterhielt sich mit ihnen über das, was sie gesehen, und hatte eine innige Freude an ihren Antworten und bisweilen wirklich recht scharfsinnigen Bemerkungen.

Es war 2 Uhr, und ich mußte zur Tafel bei ihm bleiben, wo die Gespräche fortgesetzt und von den beiden [109] Enkeln die abenteuerlichen Wege durch die Fichtenwälder, da sie bisweilen die steilsten Abhänge hinauf und hinunter gegangen waren, sehr malerisch geschildert wurden. Der erhabene Apapa (so nannten ihn seine Enkel) hatte seine herzliche Freude darüber, wie seine freundlichen Gesichtszüge verriethen.

Nachmittags war der Geheime Rath und Oberjägermeister von Fritsch eingetroffen, da er in Weimar vernommen hatte, daß Goethe hierher gereist sei, um seinen Geburtstag hier zu feiern, zu welchem Tage er ihn zur Tafel lud.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1831. 1831, 27. August. Mit Johann Christian Mahr und Goethes Enkeln. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A5B4-9