1815, 20. September.


Mit Sulpiz Boisserée und Anton Thibaut

Mittwoch den 21. 1 fuhren wir nach Heidelberg. Unser Gespräch führte uns auf die Antike. Goethe wünschte sich in einem Statuensaal zu wohnen und zu schlafen, um unter den Göttergestalten zu erwachen. Ich habe mir zuerst die Büsten in physiognomischer Rücksicht angesehen, die der Götter, sowie der Personen; überall herrscht dieselbe Großheit der Naturansichten; ich meine, die Griechen hätten keine Anatomie getrieben in der Kunst, sondern bloß durch die Oberfläche mit ihrem glücklich scharfen Auge den ganzen Körperbau durchgesehen. Goethe sagte ausdrücklich das Gegentheil; es wäre auch ohne Anatomie nicht möglich. Ich sprach dann auch meine Verehrung aus über die Einheit und das glückliche Maßhalten in allen ihren Werken. Goethe sagte darauf: »Ja, in Allem, auch in ihrem Theater; nehmen wir Calderon, Shakespeare dagegen; diesem Letztern fehlt die Einheit; er war von seiner Zeit abhängig, so gut wie Jeder, die Schlegel mögen sagen was sie wollen. Shakespeare ist mehr episch und philosophisch als dramatisch.« Goethe hat »Romeo und Julie« für die Bühne abgeändert; er gibt mir eine weitläufige Beschreibung der Endscene; von dem Theatereffekt der Lampe in der Gruft über der Leiche u.s.w. [239] Cornelius' Zeichnung hatte uns darauf gebracht, worin diese Handlung ganz verfehlt ist.

Dann kamen wir auf den »Faust« die Fortsetzung desselben. Über Goethes Werke überhaupt. Meisters Wanderungen. Novellen. Auf die bestimmte Zahl der verschiedenen möglichen Liebesverwicklungen.

Ich brachte das Gespräch auf seine Naturansichten, auf die versprochene Formenlehre. Die Metamorphose ist in Allem, auch in den Thieren. Der Kopf ist nichts anderes, wie ein Wirbelbein. Diesen Gedanken hat ihm Oken gestohlen, als er denselben abends bei Fromanns aussprach, und ihn auf der Stelle in einer schon in der Druckerei befindlichen Abhandlung oder Programm eingerückt. – Goethe sprach den Wunsch aus: jetzt, da wir einmal auf dem Weg sind, sollten wir nur sofort nach München und Italien fahren. Wir kamen zu Mittag nach Heidelberg.

Thibaut bekennt, daß er Unrecht gehabt in Vertheidigung von Görres, im vorigen Jahr. Goethe erwidert uns darauf: »Ja, lehrt mich die Welt nicht kennen. Ich habe gleich, als der Enthusiasmus los ging, den Fluch des Bischofs Arnulphus über alles deutsche politische Gerede ausgesprochen, und mir dadurch die Qual vom Halse gehalten. Wie sie mir nur davon anfingen, hub ich gleich an: ich verfluche euch u.s.w. Da waren sie bald still und ließen mich ungeschoren.«


Note:

1 Mittwoch war der 20.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1815. 1815, 20. September. Mit Sulpiz Boisserée und Anton Thibaut. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A611-2