1821, nach 6. November.


Mit Felix Mendelssohn-Bartholdy u.a.

Es war Anfangs November im Jahre 1821, als drei Mitglieder der Weimarischen Capelle, darunter auch der Schreiber dieser Zeilen [Lobe], zu dem Herrn Geheimen Rath v. Goethe bestellt, von dem Diener in das bekannte Zimmer, vorn heraus nach dem sogenannten Plan liegend, eingeführt wurden. Drei Pulte standen an der Seite des geöffneten Flügels für uns bereit. Auf demselben lag ein Convolut geschriebener Notenhefte. Neugierig, wie ich in Sachen der Musik immer war und noch bin, blätterte ich darin [145] und las: Studien im doppelten Contrapunkt; ein anderes Heft war überschrieben: Fugen; ein drittes: Kanons. Dann kam: Quartett für Clavier mit Begleitung von Violine, Viola und Cello. Auf allen Heften stand der Name Felix Mendelssohn-Bartholdy. Die Noten waren mit fester zierlicher Hand geschrieben, und, soviel ich bei schnellem Überblick bemerken konnte, zeigte die Mache einen tüchtig ausgebildeten Künstler. Der Name Mendelssohn als Musiker war uns unbekannt.

Während wir unsere Instrumente in die Hand nahmen und vorläufig in Stimmung mit dem Clavier setzten, trat ein langer Mann herein: .... es war der Professor Zelter, der bekannte Director der Berliner Singakademie. Er begrüßte uns freundlich und mich als »alten Bekannten«. – »Ich bin Vorausgegangen, meine Herren,« begann er dann, »um vorläufig eine Bitte an Sie zu richten. Sie werden einen zwölfjährigen Knaben kennen lernen, meinen Schüler, Felix Mendelssohn-Bartholdy. Seine Fertigkeit als Clavierspieler, mehr wohl noch sein Compositionstalent werden Sie wahrscheinlich in einigen Enthusiasmus versetzen. Nun ist aber der Junge eine eigene Natur: alles Dilettantengejauchze um ihn herum berührt ihn nicht, auf das Urtheil der Musiker aber lauscht er begierig, nimmt jedes für blanke ächte Münze; denn der junge Kiekindiewelt ist natürlich noch zu unerfahren, um wohlwollende Aufmunterung von verdienter Anerkennung immer gehörig [146] unterscheiden zu können. Darum, meine Herren, wenn Sie zu einem Lobgesang angeregt werden sollten, was ich immer zugleich wünsche und fürchte, so führen Sie ihn in mäßigem Tempo, nicht zu geräuschvoll instrumentirt und in C-dur, der ungefärbtesten Tonart, auf. Bisher habe ich ihn vor Eitelkeit und Selbstüberschätzung bewahrt, diesen vermaledeiten Feinden alles künstlerischen Fortschreitens.«

Ehe wir noch etwas auf diese einigermaßen sonderbare Anrede erwidern konnten, kam er hereingesprungen, der Felix ..... Mit Felix war auch Goethe eingetreten, der unsre ehrfurchtsvolle Verbeugung freundlich grüßend erwiederte. »Mein Freund« – sagte er auf Zelter deutend – »hat da einen kleinen Berliner mitgebracht, der uns dieser Tage große Überraschung als Virtuose bereitete; nun sollen wir ihn auch noch als Componisten kennen lernen, wozu ich Ihre Beihülfe erbitte. So laß uns denn hören, mein Kind, was Dein junger Kopf producirt hat.« Bei diesen Worten strich Goethe dem Knaben über die langen Locken. – Alsobald lief dieser zu den Noten, legte die Stimmen für uns auf die Pulte, die Principalstimme auf den Flügel und nahm eilig Platz auf dem Sessel. Zelter stellte sich hinter Felix zum Umwenden, Goethe einige Schritte seitwärts, die Hand auf den Rücken. Der kleine Componist warf einen feurigen Blick auf uns, wir legten die Bogen an, eine Bewegung von ihm und das Spiel begann.

[147] .... Goethe hörte alle Sätze mit der gespanntesten Aufmerksamkeit an, ohne besondere Bemerkungen zu machen, als etwa nach dem einen Satz ein »Gut!«, nach dem andern ein »Brav!«, welches er mit einem freundlich beifälligen Nicken begleitete. Zelter's Ermahnung eingedenk, zeigten auch wir dem Knaben, dessen Antlitz im Verfolg des Vortrags sich immer höher röthete, unsern Beifall nur durch erfreute Mienen. Als der letzte Satz zu Ende, sprang Felix von seinem Sitz auf und blickte alle der Reihe nach mit fragendem Blick an; er mochte nun etwas über sein Werk hören wollen. Goethe aber nahm, wahrscheinlich von Zelter gestimmt, das Wort und sagte zu Felix: »Recht brav, mein Sohn! Die Mienen dieser Herren« – auf uns deutend – »sprechen deutlich genug aus, daß ihnen Dein Product recht gut gefallen hat. Nun geh' hinunter in den Garten – man erwartet Dich – und erhole und kühle Dich ab; denn Du brennst ja lichterloh.« Ohne Weiteres sprang der Knabe zur Thüre hinaus.

Als wir unsere Blicke fragend auf Goethe richteten, ob wir entlassen seien, sagte er: »Verweilen Sie noch ein wenig, meine Herren! Mein Freund und ich wünschen Ihre Ansicht über des Knaben Composition zu vernehmen.« Es entspann sich nun eine längere Unterhaltung ..... Goethe bedauerte, daß wir den Kleinen heute nur im Quartettspiel kennen gelernt hätten. »Die musikalischen Wunderkinder« – sagte [148] er – »sind zwar hinsichtlich der technischen Fertigkeit heutzutage keine Seltenheit mehr, was aber dieser kleine Mann im Phantasiren und Primavistaspielen vermag, grenzt an's Wunderbare, und ich habe es bei so jungen Jahren nicht für möglich gehalten.« – »Und Du hast doch den Mozart in seinem siebenten Jahre in Frankfurt mit angehört,« sagte Zelter. »Ja!« erwiderte Goethe, »da mals zählte ich selbst erst zwölf Jahre und war allerdings wie alle Welt höchlich erstaunt über die außerordentliche Fertigkeit desselben; was aber Dein Schüler jetzt schon leistet, mag sich zum damaligen Mozart verhalten, wie die ausgebildete Sprache eines Erwachsenen zu dem Lallen eines Kindes.« – »Allerdings,« sagte Zelter lächelnd, »was das Fingergeschick betrifft, so spielt der Felix die Concerte, mit denen Mozart die Welt seiner Zeit in Erstaunen setzte, als leichte Spielerei frisch vom Blatte weg, ohne eine einzige Note sitzen zu lassen. Aber das können jetzt viele andere noch. Bei mir handelt sich's um das schaffende Talent des Knaben, und« – sich an uns wendend – »was meinen die Herren zu seiner Quartettcomposition ?«

»Es wurde von unserer Seite mit voller Überzeugung ausgesprochen, daß Felix viel selbstständigere Gedanken producire, als Mozart in denselben Jahren, der damals noch nichts anderes, als gewandte Nachahmungen des Vorhandenen geliefert habe. Hiernach sollte man schließen dürfen, daß die Welt mit diesem[149] Knaben einen zweiten Mozart in verbesserter Auflage erhalten werde und um so sicherer, als er von blühender Gesundheit strotze und alle äußeren Umstände ihm so günstig wären. – ›Möchte es so sein!‹ sagte Goethe. ›Wer aber kann sagen, wie ein Geist sich in der Folge entwickeln mag? Wir haben schon so man ches vielversprechende Talent falsche Wege einschlagen und unsere großen Erwartungen täuschen sehen. Indeß davor wird diesen jungen Geist der Lehrer bewahren, den ihm das gute Glück in Zelter zugefügt hat.‹ – ›Ich nehme es wohl ernst mit dem Jungen und halte ihn neben seinen eigenen freien Arbeiten immer bei der Stange der strengen contrapunctischen Studien; allein wie lange kann das noch dauern, so entläuft er meiner Zucht, – ich kann ihn ja eigentlich jetzt schon nichts Wesentliches mehr lehren – und einmal frei, wird sich's erst zeigen, wohin seine eigentliche Richtung geht.‹ – ›Ja, und überhaupt‹ – sagte Goethe-›ist es mit dem Einfluß des Lehrers eine problematische Sache. Das, was den Künstler groß und eigenthümlich macht, kann er nur aus sich selbst schaffen. Welchen Lehrern danken denn Raphael, Michel Angelo, Haydn, Mozart und alle ausgezeichneten Meister ihre unsterblichen Schöpfungen?‹ ›Freilich!‹ bemerkte Zelter; ›es haben viele angefangen wie Mozart, aber noch ist ihm keiner nachgekommen.‹«

[150]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1821. 1821, nach 6. November. Mit Felix Mendelssohn-Bartholdy u.a.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A622-9