1804, October (?).


Mit Johann Heinrich Voß d. J.

Ich bin gewöhnlich bei Goethe, wenn seine Familie mal verreist ist. Nun war Riemer mit August und der Vulpius nach Oberweimar gefahren, um dort einer Fête beizuwohnen. Goethe schickte also um 5 Uhr zu mir, ob ich nicht zu ihm kommen und den Brunckischen Sophokles mitbringen wollte. Als ich zu ihm kam, fand ich's gar behaglich bei ihm. Er hatte eingeheizt, hatte sich ausgezogen bis auf ein wollen Wämmschen, worin der Mann sich gar prächtig ausnimmt. Nun bot er mir freundlich und liebreich die Hand und schüttelte sie recht treuherzig. »Ja,« sagte er, »die Jugend ist verreist und springt in der Welt herum, nun wollen wir Alten zusammen sein.« (Er weiß nämlich, daß ich der alte Ehrwürdige heiße.) Bis gegen 7 Uhr hin sprachen wir; dann kam Licht und nun fingen wir an griechisch zu lesen. Ich übersetzte ihm erst den langen Chor aus der »Elektra«. Und dann fingen wir an, den »König Ödipus« zu lesen. Ich hatte Deine [Solger's] Übersetzung mitgebracht; daraus hat Goethe mit inniger Freude bis zum ersten Chor mit lauter Stimme declamirt. »Der versteht's!« sagte er einmal, »aber er ist noch glücklicher Anfänger in der Kunst.« Noch dröhnt mir in den Ohren, wie prächtig er den Vers [23 f.]


[285] vorzutauchen strebt bereits

Umsonst ihr Haupt aus Tiefen blut'gen Wogenschwalls


declamirte, da wünschte ich, daß Dir die Ohren klingen möchten, und wer weiß, ob's nicht geschehen ist... Solche frohe Tage soll ich noch oft erleben. Ich sagt' es ihm selbst einmal, wie es mich glücklich macht, daß er nicht gleichgültig gegen mich ist, und erhielt ein treuherziges »Gutes Kind!« mit Kuß und Händedruck dafür zur Antwort. Ja, er behandelt mich wie einen zärtlich geliebten Sohn. Schon seit lange darf ich unangemeldet zu jeder Tageszeit, so oft ich will, zu ihm auf's Zimmer kommen, was wahrhaftig bei Goethe nichts Geringes ist. Heute Morgen war ich schon vor 7 Uhr bei ihm.

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Goethe ist jetzt mit der neuen Ausgabe seiner gesammten Werke beschäftigt. Daß er den »Götz von Berlichingen« umgearbeitet hat, wird Dir bekannt sein; er ist jetzt so angeschwollen, daß die Aufführung sechs Stunden währt. Das erste Mal kamen wir halb 12 Uhr aus dem Theater; jetzt wird die Aufführung getheilt: das erste Mal giebt man drei Acte und dann vierzehn Tage darauf die beiden andern. Das zweite Mal indeß wird des Zusammenhangs wegen der dritte Act repetirt, so daß wir diesen in Zukunft am öftersten sehen werden. Wie ist der gute Papa jetzt fröhlich über dieses Stück! Er sagte mir neulich: »Die Narren« (vielleicht auch auf Babo hindeutend) »haben es sich [286] recht angelegen sein lassen, die regellose Form meines alten ›Götz‹ nachzuahmen, als ob ich die mit Bedacht gewählt hätte! Damals verstand ich's nicht besser und schrieb hin, was mir in den Sinn kam.« – Denke Dir, Solger! Wir haben bei dieser Gelegenheit Hoffnung, daß der ganze »Faust« erscheint; Goethe wird ihn jetzt schwerlich als Fragment drucken lassen, besonders da er so manchmal die Empfindung im Herzen nährt, daß man jetzt eilen müsse, bevor die ewige Nacht eintritt.

[287]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1804. 1804, October (?). Mit Johann Heinrich Voß d. J.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A67E-E