1830, 28. März.


Mit Friedrich von Müller
und Clemens Wenzeslaus Coudray

Er hatte in seinem Garten mit Eckermann gespeist. Als ich um 5 Uhr Nachmittags zu ihm kam, stand Durand's Portrait von Schmeller auf der Staffelei. »Das soll wohl Durand sein,« sagte ich, worauf Goethe versetzte: »Er selber ist es freilich nicht.« Und ich merkte alsobald, daß ihn meine skeptische Äußerung geärgert habe.

Er bat, ich möchte ihm das Merkwürdigste aus den Zeitungen erzählen: über Griechenland, die alte Morgue; [280] es sei albern von Capo d'Istria, wenn er die griechischen Primaten schelte: sie taugten überall nichts, nicht bloß dort. Er dankte Gott, daß er kein Philhelene sei, sonst würde er sich über den Ausgang des Drama jämmerlich ärgern. Er redete dann von »L'âne mort et la femme guillotinée 1« und von der »Palingénésie sociale«, die er ein schwaches Werk nannte. Er habe lang genug über diese Probleme gedacht, mit Herdern, ehe die »Ideen« etc. gedruckt worden, Alles vielfach durchsprochen, und so verdrieße es ihn zu lesen, was andere minder gehaltvoll darüber faselten. Es komme nichts dabei heraus; solche Probleme seien einmal nicht zu lösen. Was wolle das heißen: Stadt Gottes? Gott habe keine Stadt, sondern ein Reich, kein Reich, sondern eine Welt, keine Welt, sondern Welten.

Coudray kam dazu. Er lobte den aus England zurückgekommenen jungen Architekten Kirchner, auf den der sel. Großherzog so viel gewendet habe.

Goethe zeigte uns seine Präparate von Schnepfenköpfen, merkwürdig wegen der ungeheuer großen Augen. Darauf kam das Gespräch auf vergleichende Anatomie, und Goethe wiederholte, was in seinem Gedichte: »Metamorphose des Thierreichs« vorkommt: Gott selbst könne keinen Löwen mit Hörnern schaffen, weil er nicht die von ihm selbst für nothwendig erkannten Naturgesetze umstoßen könne.

[281] »Hernani« [von V. Hugo] sei eine absurbe Composition, ebenso der »Gustav Adolf« [von Arnaut?] und die »Christine« [von Arnault? oder Stockholm, Fontainebleau et Rome von Dumas?]. Überhaupt hätten die Franzosen seit Voltaire, Buffon und Diderot doch eigentlich keine Schriftsteller erster Größe gehabt, keinen, bei dem die geniale Kraft, die Löwentatze so recht entschieden hervorgetreten. »Paul und Virginie« [von Bernardin de Saint-Pierre], ingleichen »Atala« [von Châteaubriant] könne man allenfalls noch gelten lassen. Wenn die Franzosen sich mausig machen, so will ich es ihnen noch vor meinem seligen Ende recht derb und deutlich vorsagen. Ach, wenn man so lange gelebt hat wie ich und über ein halbes Jahrhundert mit so klarem Bewußtsein zurückschaut, so wird einem das Zeug alles, was geschrieben wird, recht ekelhaft.

Wir kamen auf Milosch und die Serbier. »Ja,« sagte er, »es war doch eine schöne Zeit, als die Übersetzung der serbischen Gedichte zuerst hervortrat, und wir so frisch und lebendig in jene eigenthümlichen Zustände hinein versetzt wurden. Jetzt liegt mir das ferne, ich mag nichts mehr davon wissen.

Seit ich keine Zeitungen mehr lese, bin ich ordentlich wohler und geistesfreier. Man kümmert sich doch nur um das, was andere thun und treiben, und versäumt, was einem zunächst obliegt.

Ich habe Natur und Kunst eigentlich immer egoistisch studirt, nämlich um mich zu unterrichten. Ich[282] schrieb auch nur darüber, um mich immer weiter zu bilden. Was die Leute daraus machen, ist mir einerlei.«

Er wurde immer redseliger und behaglicher, doch nicht recht gemüthlich.


Note:

1 Jules Janin, L'âne mort etc. Paris 1827.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1830. 1830, 28. März. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A6E4-8