1812, Mitte Januar.


Mit Charlotte von Schiller u.a.

Vor vierzehn Tagen ungefähr lebte ich noch ganz fremd und entfremdet mit dem Meister und liebte ihn,[35] wie man die Natur liebt, ohne zu begreifen, daß sie einen ansieht, wenn wir sie segnen. Unsre Freundin St(ein) gerieth auf die Gedanken, alle Papiere, die sie [Erbprinzeß Caroline von Mecklenburg-Schwerin] auch sehen möchten oder sahen, zu zeigen. Ich durchblickte dieses wunderbare menschliche Wesen und klagte über das Schicksal unserer Freundin und lebte recht in der Vergangenheit mit ihr, und es war, als schlösse sich mein Herz mit den leisesten Fäden an das ihre an, und ich gelobte ihr, sie nie zu verlassen, und meine Liebe solle ihr folgen bis ins Grab. Ich komme von dem Lesen in eine Gesellschaft zu Fr. v. R., die ihn mit der dicken Hälfte bat, und er fing an so von der Vergangenheit zu sprechen, erzählte plötzlich von Sachen, die ich eben gelesen, von denen er historisch in den Briefen sprach, weil er eine Reise beschrieb, von der Familie Ihrer Frau Großmutter zum Beispiel, 1 daß es mich unaussprechlich wunderte. Ich hatte ihm die hübsche Art erzählt, wie Henriette [v. Knebel] über sein Leben geschrieben. Ich gehe, um meinen Mantel umzunehmen; da kommt er, faßt mich bei der Hand, dankt noch einmal für die Mittheilung, sagt, daß es ihm wohl sei, mit jemandem zu sein, der seine Sprache verstehe, wie ich, die ich ihn so lange kenne, daß wir uns nie fremd, noch fern sein könnten, und sagte noch: »wissen Sie noch, wie lange wir schon von einander wußten, wie Sie noch da über den Bergen waren, über Kochberg hinaus?« (In diesem Augenblick hätte er gewiß [36] auch die alte treue Freundin erkannt.) Ich wurde so weich, daß die Thränen mir kamen, und fühlte auch, daß ich ihn nicht verlieren kann. Aber diese sonderbare Stimmung gerade da, wo ich so recht in ihm lebte, seine Verhältnisse zu Fr. V. St. fühlte, das ist mir lieb und tröstlich; denn die Seelen kennen eine Sprache, die nie verstummt, wenn sie rein einst klang. Seit der Zeit sah ich ihn in dieser Woche öfter, auf der Redoute am Sonntag, und immer war er gleich freundlich und gemüthlich.


Note:

1 Das herzoglich Braunschweigische Haus.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1812. 1812, Mitte Januar. Mit Charlotte von Schiller u.a.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A701-7