1827, 21. Juli.


Mit Johann Peter Eckermann

Als ich diesen Abend zu Goethe ins Zimmer trat, fand ich ihn im Lesen von Manzoni's Roman. »Ich bin schon im dritten Bande,« sagte er, indem er das Buch an die Seite legte, »und komme dabei zu vielen neuen Gedanken. Sie wissen, Aristoteles sagt vom Trauerstiele, es müsse Furcht erregen, wenn es gut sein solle. Es gilt dieses jedoch nicht bloß von der Tragödie, sondern auch von mancher andern Dichtung. [166] Sie finden es in meinem ›Gott und die Bajadere‹, Sie finden es in jedem guten Lustspiele und zwar bei der Verwickelung, ja Sie finden es sogar in den ›Sieben Mädchen in Uniform‹ [von Angely], indem wir doch immer nicht wissen können, wie der Spaß für die guten Dinger abläuft. Diese Furcht nun kann doppelter Art sein: sie kann bestehen in Angst, oder sie kann auch bestehen in Bangigkeit. Diese letztere Empfindung wird in uns rege, wenn wir ein moralisches Übel auf die handelnden Personen heranrücken und sich über sie verbreiten sehen, wie z. B. in den ›Wahlverwandtschaften‹. Die Angst aber entsteht im Leser oder Zuschauer, wenn die handelnden Personen von einer physischen Gefahr bedroht werden, z. B. in den ›Galeerensclaven‹ [von Th. Hell] und im ›Freischütz‹; ja in der Scene der Wolfsschlucht bleibt es nicht einmal bei der Angst, sondern es erfolgt eine totale Vernichtung in allen, die es sehen.

Von dieser Angst nun macht Manzoni Gebrauch und zwar mit wunderbarem Glück, indem er sie in Rührung auflöst und uns durch diese Empfindung zur Bewunderung führt. Das Gefühl der Angst ist stoffartig und wird in jedem Leser entstehen; die Bewunderung aber entspringt aus der Einsicht, wie vortrefflich der Autor sich in jedem Falle benahm, und nur der Kenner wird mit dieser Empfindung beglückt werben. Was sagen sie zu dieser Ästhetik? Wäre ich jünger, so würde ich nach dieser Theorie etwas [167] schreiben, wenn auch nicht ein Werk von solchem Umfange wie dieses von Manzoni.

Ich bin nun wirklich sehr begierig, was die Herren vom ›Globe‹ zu diesem Roman sagen werden; sie sind gescheidt genug, um das Vortreffliche daran zu erkennen; auch ist die ganze Tendenz des Werks ein rechtes Wasser auf die Mühle dieser Liberalen, wiewohl sich Manzoni sehr mäßig gehalten hat. Doch nehmen die Franzosen selten ein Werk mit so reiner Neigung auf wie wir; sie bequemen sich nicht gern zu dem Standpunkte des Autors, sondern sie finden selbst bei dem Besten immer leicht etwas, das nicht nach ihrem Sinne ist und das der Autor hätte sollen anders machen.«

Goethe erzählte mir sodann einige Stellen des Romans, um mir eine Probe zu geben, mit welchem Geiste er geschrieben. »Es kommen,« fuhr er sodann fort, »Manzoni vorzüglich vier Dinge zu statten, die zu der großen Vortrefflichkeit seines Werks beitragen. Zunächst, daß er ein ausgezeichneter Historiker ist, wodurch denn seine Dichtung die große Würde und Tüchtigkeit bekommen hat, die sie über alles dasjenige weit hinaushebt, was man gewöhnlich sich unter Roman vorstellt. Zweitens ist ihm die katholische Religion vortheilhaft, aus der viele Verhältnisse poetischer Art hervorgehen, die er als Protestant nicht gehabt haben würde; sowie es drittens seinem Werke zugute kommt, daß der Autor in revolutionären Reibungen viel gelitten, [168] die, wenn er auch persönlich nicht darin verflochten gewesen, doch seine Freunde getroffen und theils zu Grunde gerichtet haben. Und endlich viertens ist es diesem Romane günstig, daß die Handlung in der reizenden Gegend am Comersee vorgeht, deren Eindrücke sich dem Dichter von Jugend auf eingeprägt haben und die er also in- und auswendig kennt. Daher entspringt nun auch ein großes Hauptverdienst des Werks, nämlich die Deutlichkeit und das bewundernswürdige Detail in Zeichnung der Localität.«

[169]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1827. 1827, 21. Juli. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A709-8