1812, 23. October.


Mit Friedrich von Müller

Am 23. October 1812 wollte Goethe mit mir einen Besuch bei dem französischen Gesandten Baron v. St. Aignan abstatten. Wir trafen ihn aber nicht zu Hause. Im Heimgehen kamen wir auf seine Kupferstichsammlungen zu sprechen, wie er denn auserlesene Blätter daraus alle Sonntags Morgen jenem kunstliebenden Freunde und mir vorzuzeigen und zu erläutern pflegte. »Mir ist der Besitz nöthig,« äußerte er, »um den richtigen Begriff der Objecte zu bekommen. Frei von den [44] Täuschungen, die die Begierde nach einem Gegenstand unterhält, läßt erst der Besitz mich ruhig und unbefangen urtheilen. Und so liebe ich den Besitz, nicht der besessnen Sache, sondern meiner Bildung wegen und weil er mich ruhiger und dadurch glücklicher macht. Auch die Fehler einer Sache lehrt mich erst der Besitz, und wenn ich z.B. einen schlechten Abdruck für einen guten kaufe, so gewinne ich unendlich an Einsicht und Erfahrung. Einst verkaufte mir ein bekannter Kunstkenner eine angebliche Antike, die er innerlich für ein modernes Product hielt; es fand sich aber, daß es eine wirkliche Antike war; so erschien er bestraft, ich aber für meinen guten Glauben belohnt.«

Wir setzten das Gespräch in Goethes Garten fort und es fiel bald auf die neueste Literatur. Die meisten neuen Schriften, die man mir sendet, sagte er, stelle ich hin und lese sie erst nach einigen Jahren. Dann habe ich das geläutertere Urtheil der Zeitgenossen und das Werk selbst zugleich vor mir.

»Tieck, Arnim und Consorten haben ganz recht, daß sie aus früheren Zeiten herrliche Motive hervorziehen und geltend machen. Aber sie verwässern und versauern sie nur gewaltig und lassen oft gerade das Beste weg. Soll ich alle ihre Thorheiten mitschlucken? Es hat mich genug gekostet, zu werden wie ich bin; soll ich mich immer von Neuem beschmutzen, um diese Thoren aus dem Schlamm zu ziehen, worein sie sich muthwillig stürzen? Oehlenschläger war wüthend, weil ich [45] seinen Correggio nicht aufführen ließ. Zwar hatte ich Wanda aufgenommen, – aber muß man denn zehn dumme Streiche machen, weil man einen gemacht hat?«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1812. 1812, 23. October. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A715-C