1821, 15. Januar.


Mit Friedrich von Müller

Abends nach acht Uhr zu ihm gegangen und bis nach zehn Uhr geblieben.

[100] Die Unterhaltung drehte sich zunächst um Riemer's Dienstverhältniß neben Vulpius, des ersteren Zulage und Competenzen. Ein Bibliothekar, der keine Geheimnisse, kein verschlossenes Zimmer habe, sei kein rechter. Riemer sei nicht ganz geeignet zum currenten Bibliotheksdienst; man könne Vulpius nicht verargen, wenn er sich nicht ins Handwerk greifen lasse. Er habe aber leider kein Maß und keine Gränze in seinem Thun und Wollen; er sei ein Faß, dem die Reifen fehlen. 1

Ich erwähnte Schubarth's schöner Äußerungen über das ideale Maß jeder menschlichen Anlage gelegentlich seines Aufsatzes über »Faust«. 2 Goethe nahm Gelegenheit, mir dessen letzten Brief zu zeigen: »wie ungern ich auch« – setzte er hinzu – »Briefe vorzeige.« .....

Von Schubarth's Bruder sagte Goethe: er sei ein auf Landwirthschaft gerichteter, gar liebenswürdiger, heiterer, verständiger Mensch, viel realer, sinnlicher, fester als der Schriftsteller. Er hätte ihn gern hierher empfohlen, wenn er anders noch den geringsten Glauben an das Gelingen solcher Unternehmungen hätte. Als wir auf einige in Untersuchung begriffene Beamte von ganz untergeordneter Bedeutung zu reden kamen, äußerte Goethe: »Überall überspannte Ansprüche auf Lebensgenuß, [101] überall die dunkle Meinung, es sei alles zu wagen, es werde alles durchgehen..«

Über Schubarth und Riemer äußerte er noch: beide seien gleich wenig zu directen Lehrämtern, wohl aber zu Akademikern im französischen Sinne gemacht: zur Belehrung der ganzen Welt durch scharfsinnige Schriften, nicht aber durch consequente, folgerechte Belehrung einzelner.

Eben kamen eine Menge Briefe an ihn von der Post an. Er theilte mir die neue Berliner Monatsschrift mit, worin ein fingirter, von Madame Laura Förster – die Goethe als sehr schön schildert – abgefaßter Bericht an Goethe über die Berliner Kunstausstellung befindlich. 3 Dann zeigte er mir sein Tagebuch, in Folio zu halbem Rand geschrieben, wo am Rande jeder abgegangene Brief genau bemerkt ist. Auf gleich großem Bogen bemerkt er täglich am Morgen die »Agenda« nur mit Einem Wort für jedes Vorhaben, und durchstreicht es jedesmal nach geschehener Erledigung. Selbst die Zeitungen, die er liest, werden actenmäßig geheftet. Bei den Bibliotheken hier und in Jena muß ihm jeder Angestellte ein sauber geschriebenes Tagebuch halten, worin Witterung, Besuche, Eingänge und Vorgänge aller Art, sowie das jeden Tag Gearbeitete aufgezeichnet werden müssen. »So« – sprach er – »wird den Leuten erst lieb, was sie treiben, [102] wenn sie es stets mit einer gewissen Wichtigkeit anzusehen gewohnt werden, stets in gespannter Aufmerksamkeit auch auf das Kleinste bleiben.«


Note:

1 Dieser zweite Absatz ist von Burkhardt aus v. Müller's Tagebuch nur auszugsweise wiedergegeben.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1821. 1821, 15. Januar. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A757-7