1829, 31. August.


Abend bei August von Goethe

Abends bei Frau Ottilie kam Papa Goethe nach 8 Uhr und verweilte beinahe zwei Stunden. Während der ganzen Zeit sprach er meist mit Adam, doch bekam ich [Odyniec] auch mein Theil und zwar immer in demselben sehr wohlwollenden, halb scherzhaften Tone wie gewöhnlich. Er verbürgte sich sogar für mich bei Frau Rosa mit den Worten: »Er wird nicht so leicht uns vergessen.« Ich benützte die Gelegenheit, um mit Nachdruck – versteht sich, es auf ihn anwendend – dasselbe auszusprechen, und durch seinen liebevollen Blick ermuthigt, wagte ich, ihm dieselbe Bitte vorzutragen, welche früher Adam durch die Vermittelung von Frau Ottilie vorgebracht hatte, ihn nämlich um eine eigenhändige Namensunterschrift und um zwei gebrauchte Federn anzugehen. Er lächelte und neigte das Haupt, und der daneben stehende Adam fügte hinzu: es werde das theuerste Andenken für unser Leben sein. Lächeln und zustimmendes Kopfnicken – darauf sprach er von anderem. Als er mir dann zum letzten Abschiede die Hand reichte, er griff ich sie mit lauterer Rührung, und indem ich sie unterhalb des Ellbogens küßte, bat ich ihn um seinen Segen. Es mußte ihn nicht beleidigt haben; denn er faßte mich darauf an den Achseln und küßte mich auf die [146] Stirne, und nahm auf dieselbe Art von Adam Abschied, der ihn auf die Achseln geküßt hatte. Frau Ottilie sagte, es sei dies eine ganz besondere Gunstbezeugung, und sie erinnere sich derselben bei keinem Fremden. Im Fortgehen nahm er die Kerze vom Tische und, an der Thüre stehen bleibend, wandte er sich nochmals um und neigte die Hand wie vom Munde zu uns. Die Thür schloß sich, und wir werden ihn gewiß nie wiedersehen.

Nach etwa zehn Minuten brachte uns der ältere Enkel zwei goldgeränderte, wie für ein Stammbuch bestimmte Blättchen, auf deren jedem sichtlich früher geschriebene Verse in deutschen Buchstaben standen mit der Unterschrift »Goethe«, der noch das heutige Datum frisch zugefügt worden war; dann zwei ihrer Fahnen beraubte Federn, welche sorgfältig nach Art einer Nadel mit dem dünneren Ende durch die auseinandergerissene Mitte derselben gesteckt waren. Die vier Verse auf meinem Blättchen lauten:

Diese Richtung ist gewiß:
Immer schreite, schreite!
Finsterniß und Hinderniß
Bleiben Dir bei Seite – 1

was ich mir dann schnell in's Polnische zu übersetzen trachtete.

[147]

Als ich sie durchgelesen, bat ich Frau Rosa, sie wolle Goethe sagen, daß ich die Worte »Immer schreite, schreite!« von nun an zu meiner Devise erwähle, und sie als den magischen Spruch des Meisters betrachte, den ich sorgfältiger im Gedächtnisse bewahren würde, als sein Zauberlehrling in der Ballade. Frau Rosa versprach mir, es zu thun, da sie der Rücksichtnahme des alten Schönheitsverehrers sicher, dadurch kühner und zuversichtlicher, als andere ist – versteht sich mit Ausnahme von Frau Ottilie, welche den Papa, wie man sagt, bloß durch ihre Anmuth und Schmiegsamkeit ganz allein zu lenken weiß.


Note:

1 Vielmehr: Agostino Tassi.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1829. 1829, 31. August. Abend bei August von Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A77C-8