1826, Frühjahr.


Mit Johann Gottlob von Quandt

Als einen Beweis von Goethes richtigem Takt muß ich noch anführen, daß er in keinem Briefe des Unglücks, [276] welches ich hatte, beide Beine zu brechen, erwähnt. Ich litt an der unzweckmäßigen chirurgischen Behandlung drei Jahre unaussprechlich ..... Jedesmal hatte ich einen Kampf zu bestehen, wenn mich jemand bedauerte; denn das vergebliche Mitleid weckt nur besiegte Schmerzen ..... Selbst das Mitleid, welches ein Freund fühlt, kann den Unglücklichen nicht freuen; denn es ist das Leiden des andern, was uns doch kein Vergnügen machen kann. Das wußte Goethe sehr wohl. Einer Weimaranerin, die mich in Dresden besucht hatte, und ihm meinen Zustand ausführlich beschreiben wollte, fiel er ins Wort: »Verderben Sie meine Phantasie nicht! Quandt steht in seiner vollen Kraft und Thätigkeit vor mir.«

Unsere Freundin theilte mir diese Äußerung schriftlich mit, die mich erfreute; denn ich erkannte daraus, daß in Goethe ein Bild von mir stand, das ihm lieb war. Dies brachte den Vorsatz zur Reife, Goethe zu besuchen, sobald es mein Zustand mir erlauben würde, was freilich erst nach zwei Jahren geschehen konnte. Als ich nun soweit als möglich hergestellt und, obwohl kein Schnellläufer geworden, aber doch wie sonst wieder rührig war, so führte ich mein Vorhaben aus.

Goethe hatte mich zu sehen nicht erwartet. Als ich mich bei ihm melden ließ, führte mich der Diener in das große Empfangszimmer, und Goethe trat aus seinem Cabinet in der ihm eigenthümlichen geraden Haltung, beide Hände in die weiten Ärmel des grauen[277] Oberrockes gesteckt, vor mich hin. Ich sagte ihm, daß ich das Ziel meiner Reise, Weimar, und den Zweck, ihn nach langer Zeit wiederzusehen, erreicht hätte und sehr bald nach Dresden zurückkehren würde. Es schien ihn dies Wiedersehen zu erfreuen und er lud mich neben sich auf das Sopha ein.

Das Gespräch war heiter und bestand in Fragen und Antworten über Dresdener Zustände und Personen, ohne jedoch etwas von Bedeutung zu berühren, woher es kommen mag, daß ich mich der Gegenstände unserer Unterhaltung [1870] nicht mehr erinnere .....

Als ich ging, lud mich Goethe auf morgen zu Mittag ein. Die Gesellschaft, welche ich bei ihm fand, bestand aus den Herren Hofrath Meyer, Geh. Rath Riemer und dem Kanzler v. Müller – alles mir längst bekannte und wohlwollende Männer. Die Unterhaltung war vielseitig, anregend und heiter, Goethe selbst bei der besten Laune. Unter andern wurde eine damals noch wenig bekannte und vielleicht jetzt sogar noch nicht genug gewürdigte Schrift besprochen, in welcher der geistliche Autor die Nothlüge als ein Paroli gegen unbescheidene Fragen in Schutz nimmt. Goethe, dessen ganzes Wesen durch und durch Wahrheit war, erklärte sich unbedingt gegen jede Ausflucht, und dennoch ist es ungewiß, ob die Redensart »mit Hochachtung verbleibend«, deren er sich am Schluß seiner Briefe zu bedienen pflegte, stets im strengsten Sinne für wahr gehalten werden kann. Man sprach noch in [278] Ernst und Scherz darüber, ob dies Sagen der Wahrheit nicht bis zum Verrath gehen könne und sich immer mit den Pflichten gegen uns und andere vertrüge, jedoch blieb die Hauptfrage, wie es bei heiteren Tischgesprächen gewöhnlich geschieht, unentschieden.

Unter anderm erwähnte Goethe: »Ihre Madame D[evrient?] war auch vor kurzem hier und hat mir eine Romanze vorgesungen – nun, man muß sagen, daß der Componist das Pferdegetrappel vortrefflich ausgedrückt hat. Es ist nicht zu läugnen, daß in der von sehr vielen bewunderten Composition das Schauerliche bis zum Gräßlichen getrieben wird, zumal wenn die Sängerin die Absicht hat sich hören zu lassen.«

Gegen das Ende der Mahlzeit kam die Rede auf den Grafen L[oeben?], mit welchem ich einen literarischen Strauß gekämpft hatte, und Goethe, der im besten Zuge war und dabei eine Flasche Bordeaux leerte, sprach sich sehr lebhaft über diesen Herrn aus, auf den er zürnte, weil derselbe ihm Kupferstiche zu schenken versprochen und nicht Wort gehalten hatte. Endlich holte Goethe Athem und sagte scherzend: »Habe ich mich doch einmal wieder geärgert! Das ist gut; denn eine Bewegung bekommt mir wohl.« – Wir blieben noch eine Weile beisammen, bis die, welche Goethes gewohnte Lebensweise kannten, zum Abschied aufbrachen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1826. 1826, Frühjahr. Mit Johann Gottlob von Quandt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A855-5