[172] [177]Hugo Ball
Vom Universalstaat

Will man den Weg verstehen, auf dem die heute unter dem Schlagwort »Pangermanismus« vereinigten Tendenzen zu der furchtbaren Macht gelangten, die alle Welt kennt und verspürt, so muß man zurückgehen bis ins tiefe Mittelalter. In dem mittelalterlichen Kampf um die Suprematie zwischen geistlicher und weltlicher Macht, zwischen einer geistlichen Oberleitung durch den Papst und der tobsüchtigen Wildheit barbarischer Könige spielten sich die ersten Entscheidungen europäischer Geschichte ab. Als Otto I. sich 962 vom Papste die Kaiserkrone erzwang, entstand das »Heilige römische Reich deutscher Nation«. Unter Otto III. gab es bereits einen deutschen Papst, kaum daß es ein deutsches Volk gab. Es folgten die Kreuzzüge, in denen die Päpste der übermütigen Barbarenkraft und den verheerenden Einfällen deutscher Könige nach Italien eine phantastische Ablenkung schufen. Es folgte die Unterwerfung des geschwächten Staates unter die Kirche durch Gregor VII.

Der päpstlich-kaiserliche Universalstaat des Mittelalters leitete eine innige Verbindung der deutschen Völkerschaften mit dem zivilisiertesten Land der damaligen Welt, Italien, ein, und wenn die gewaltsamen deutschen Könige auch, sobald sie den Segen empfangen hatten, nur Richtschwert und Vollstrecker des römischen Willens geworden waren, so verlieh ihnen diese Weihe doch die »Kulturmission«, Mehrer des Kirchengebiets und Verbreiter des Evangeliums zu sein, und damit jene heraldische Allüre einer von den Reichs-Trompetern begleiteten theologischen Majestät, der die buntbäurische Phantasie des deutschen Volkes noch heute nicht gewachsen ist. Jahrhundertelang verbreitete das Schwert der Kaiser den Christenglauben, wie es unter Mohammed den Islam verbreitete. Und nicht erst heute, schon zu Gutenbergs Zeiten findet sich in der Presse die Überzeugung, die deutsche Nation sei von Gott bevorzugt und von der Vorsehung auserwählt. Sie war aber nur von den Kardinälen auserwählt und vom Papste bevorzugt. Die deutschen Könige hatten sich diese ihre Stellung durch Bluttat und Gewalt ertrotzt. Ihre Kulturleistungen blieben weit hinter dem [177] zurück, was gleichzeitig Arabien, Spanien und Italien in Kunst, Literatur und Wissenschaft leisteten.

Noch heute sehen unsere deutschen Schulräte, Geschichtsschreiber und Pädagogen nicht ein, daß keine Veranlassung vorliegt, auf diese Tradition besonders stolz zu sein. Deutschland war keineswegs das »moralische Herz der Welt«, wie Herr Scheler glauben machen will. Die Moralität war in Deutschland, von vereinzelten Mystikern und Troubadouren abgesehen, unausgebildet, abseitig und grob. Das Land war Rüstkammer und Arsenal für die weltlichen Ziele des Papsttums. In solchen Ländern ist wenig Raum für die Ausbildung verfeinerter Sitten. Profoß und Schrecken brachten den Päpsten die Barbarossas, Ottos und Friedrichs. Wen deshalb der Papst zum Kaiser salbte, dem legte er damit die Verpflichtung auf, solch »Apostolische Majestät« (noch heute trägt der Kaiser von Österreich den Titel) habe den gewaltigen europäischen Kirchenstaat zu vergrößern oder zu verteidigen, auf welche Art immer es geschehe.

Das »Heilige römische Reich deutscher Nation« wurde von Luther zerstört. Luthers robust gewaltige Persönlichkeit ist geschichtlich nur zu verstehen, wenn man den Kampf zwischen Kaiser und Papst sich vergegenwärtigt. Luther trennte Deutschland von Rom und schuf damit die Voraussetzung für die Unabhängigkeit des heutigen deutschen Feudalismus. Er lieferte den deutschen Fürsten, und Reichsherolden wie Treitschke und Chamberlain, die Ideologie für jene egozentrische Selbstüberhebung, die sich in den Köpfen alldeutscher Generäle und Subalternpropagandisten zu einem Delirium ausgewachsen hat. Von den Zeiten der Reformation an gelang es den Päpsten nicht mehr, die deutsche Macht unter eine geistige Obhut zu beugen.

Luther wurde ein Angelpunkt der Geschichte. Von Luther an beginnt sich ein neuer Universalstaat vorzubereiten, in dessen Zentrum nicht mehr die ganze klerikale, sondern die ganze profane Gewalt steht. In den großen Bauernkriegen von 1524/25 handelte es sich darum, ob die uralte Feudaltradition Deutschlands gebrochen werden könne oder nicht. Diese deutsche Revolution (wichtiger heute als die Reformation, mit der sie Hand in Hand hätte gehen können) mißglückte. Der Feudalismus wurde gestärkt. Im Aufkommen der Hohenzollern [178] verjüngte er sich. Das Aufkommen der Hohenzollern brachte den Konkurrenzkampf mit Habsburg, dem letzten Rudiment des mittelalterlichen Systems. Damals gingen die geistlichen und weltlichen Methoden der Universalstaatspolitik und »Diplomatie von Wien« in die preußischen Kabinette über. Und heute erleben wir es, wie derselbe, auf die Besitzlosen, das Proletariat gegründete Universalstaat des Mittelalters von Berlin aus wiederaufersteht.

Jetzt ist es umgekehrt. Das kaiserliche Regime sucht den Papst zu benützen, wie im Mittelalter der Papst den Kaiser ausspielte. Steuerte Habsburg die diplomatischen Methoden bei, so Napoleon die militärischen. Eine satanische Macht regiert heute Deutschland und sucht sich von dort aus die Welt zu unterwerfen. Das Mittel ist Zweck geworden. Die Profanität triumphiert, und eine Entwertung aller Werte findet statt, die niemals ihresgleichen sah. Als Dante seine Schrift »De monarchia« schrieb, ließ er sich kaum träumen, daß er die Hölle selbst damit begünstigte. Gott ist Werkzeug der Monarchie geworden. Moral und Religion sind der omnipotenten Staatsgewalt untergeordnet, und die Folge dieser Perversion der Moralbegriffe ist es, daß man die teuflischsten Dinge im Namen Gottes verherrlicht, ohne jegliches Gefühl und Gewissen für die Inferiorität dieses Evangeliums der reinen Kraft und Gewalt.

Jede Art Mystik, jede Art Religion, jede Regung des Seelenlebens und der menschlichen Sehnsucht, alles was dem Menschen heilig ist, wird von diesem System in raffiniertester Weise benützt, um den Menschen zu fassen und gefügig zu machen. An die Stelle des Ablasses ist der Aderlaß getreten. An die Stelle der Beichte die Detektivpolizei. Die großen moralischen Werte der Menschheit (Seele, Friede, Vertrauen; Achtung, Freiheit und Glauben) werden nach dem Erfolg berechnet und als Mittel zur Erreichung von Zwecken ausgespielt, die der traditionellen Bedeutung dieser Worte entgegengesetzt sind. Das klerikale Kollegium de propaganda fide ist ersetzt von einem journalistischen de propaganda bello, und die Freude und der Stolz, mit denen man diesem verwerflichen System dient, geben die Beleuchtung zu einem infernalischen Totentanz, in dem die Reste deutschen Wesens in Verwesung übergehen.

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TextGrid Repository (2012). Ball, Hugo. Schriften. Vom Universalstaat. Vom Universalstaat. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-AA49-2