Platz für geistig Behinderte in ‘Heimen an entlegenen Orten’

Bevölkerung hat wenig Verständnis für ‘anormale’ Kinder

Bonn.

Die Zahl der geistig behinderten Kinder in der Bundesrepublik steigt jährlich an. Die meisten Bundesbürger möchten diese oft besonders sensiblen und hilfsbedürftigen Kinder am liebsten isolieren. Wo nur Verständnis, Toleranz und Mitleid helfen könnten, herrschen Vorurteile, Unsicherheit und Diskriminierung. Das ist die erschreckende Bilanz einer für die Bundesrepublik und Westberlin repräsentativen sozialpsychologischen Umfrage über die Einstellung der Bevölkerung zu geistig behinderten Menschen, die mit Unterstützung des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit und der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführt und jetzt veröffentlicht wurde.

Kaum einer der Befragten kannte die möglichen Ursachen einer solchen Krankheit. 70 Prozent meinten sogar, daß die Eltern Schuld an dem Leiden ihrer Kinder trügen und darum auch auch - so die Ansicht der Testpersonen - versuchten, ein solches Kind, das die Familie in eine ‘ungünstige soziale Position’ bringe, vor der Umwelt zu verheimlichen. 85 Prozent der Befragten gaben Scham und 92 Prozent Furcht vor dem Getuschel der Leute als Hauptgründe an, wenn Eltern ihre behinderten Kinder nicht aus dem Hause gehen ließen. Die Frage, ob es gut sei, wenn ein solches Kind früh sterbe, wurde von 70 Prozent der Testpersonen bejaht.

Daß die wenigsten nicht aus Mitleid mit diesen Kranken so urteilten, sondern vielmehr aus Angst vor ihnen, wird deutlich, wenn man die Reihe der Eigenschaften betrachtet, die ihnen zugeschrieben wurden: Stumpfsinn, Wildheit, Jähzorn, Bösartigkeit und Gefährlichkeit. Immerhin glauben gut ein Viertel der Befragten, daß diese behinderten Kinder unter der Feindseligkeit und Ablehnung ihrer Umwelt leiden. Genau diese Menschen sind es aber oft, die sich nicht eingestehen wollen, daß auch sie auf geistig Behinderte mit Ablehnung, Angst und Unsicherheit reagieren. Diese negativen Verhaltensweisen schoben sie bei der Umfrage immer nur den Nachbarn zu, die sogar vor ‘hämischen Blicken’ nicht zurückschrecken.

Noch ungünstiger berurteilten die Testpersonen die Reaktionen gesunder Kinder auf geistig Behinderte. Sie trauten ihnen sogar zu, daß sie die kranken Altersgenossen auslachen, hänseln, verspotten und schlagen. Am deutlichsten aber zeigt wohl die Frage nach der Unterbringung geistig Behinderter, wie wenig die Bevölkerung dazu bereit ist, sich ihrer anzunehmen und ihnen einen Platz in der Gesellschaft einzuräumen. Zwei Drittel der Befragten stimmten für eine Einweisung in Heime und Anstalten, die an ‘entlegenen und abgeschiedenen’ Orten errichtet werden müßten.

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TextGrid Repository (2018). Quellensammlung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen. Stereotype. B3 - Transkript. Geschichte-MMB. Mannheimer Morgen. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000B-D1BC-5