[40r]
Hochwohlgebohrener Herr
Hochverehrter Herr Staatsminister
und Geheimerrath!
 

Ew. Excellenz säume ich nicht, in Folge der in dem hochverehrten Schreiben aus Eger vom
11ten l. M.
1 mir gnädigst ertheilten Erlaubniß, ehrerbietigst anzuzeigen, daß ich
gestern hier in Gotha angelangt bin; während ich in frühern Jahren den heutigen
seegensreichen Tag
mit so vielen Tausenden in der Stille meines Herzens, oder
auch mit gleichgesinnten Freunden beging, ohne daß ich es wagen durfte mich
mit Ew. Excellenz mit dem Ausdruck meiner Empfindung zu nahen, - so ergreife ich die-
ses Mal mit Freuden die mir dargebotene Gelegenheit, würdigern und gewichti-
gern Stimmführern der öffentlichen Verehrung mich anzuschließen und, in dankbarer
Erinnerung an Alles das Große was unserer Nation und mit ihr der gebil-
deten Welt überhaupt durch Ew. Excellenz gewährt worden ist, den innigsten
Wunsch auszusprechen, daß es uns noch lange vergönnt werden möge1, uns durch das
Bewußtseyn zu stärken und zu erfreuen, daß {unserer} theurer und hochverehr-
ter Lehrer und Meister in heiterer Jugendkraft, auch unserm leiblichen Au-
ge sichtbar, unter uns wandelt. Wenn übrigens ein Dichter des Alterthums,
wie Aristoteles erzählt, auf seinem Standpunkt die Hinfälligkeit der Men-
schen darin erkannt, daß sie das Ende dem Anfange nicht zu verknüpfen
vermögen, so hat der Dichter der neuen Welt an sich selbst auf das Treff-
[40v]lichste den Ausspruch jenes Alten bestätigt und widerlegt, indem er den Anfang
mit dem Ende (den Begriff mit der Realität) in Eins zusammenziehend,
somit in seinem eignen Thun die Wahrheit des Menschen dargestellt hat,
während jener antike Ausspruch die Unwahrheit und Endlichkeit des Men-
schen treffend bezeichnet. Und so bedarf es denn auch, gleichfalls zur
Bestätigung und Berichtigung jener durch den Ausspruch des Simonides, wel-
cher die Götter für neidisch erklärte, veranlaßten Äußerung des Aristote-
les
, daß man wohl wisse daß die Dichter zu lügen pflegten, nur der
Erinnrung an die neidlose Gunst welche die Gottheit an unserm Dichter
bewährt hat. - Ew. Excellenz halten mir wohl mein ungeschicktes
Reden zu Gute, da Sie ja neuerlich noch bemerkt haben qu'il-y-a une
fibre adorative dans le coeur humain
, dem ich nur noch hinzufügen
möchte, that there is something in your countenance which I like
to call my master.
- Als eine geringe Lehnsgabe und zugleich
einen gar schwachen Versuch meinen treuen Willen für die gute
Sache, die ich als mit der Ihrigen auf unzertrennliche Weise ver-
einigt zu betrachten gewöhnt bin, zu bethätigen2, wage ich es Ew. Excellenz hier-
bey die wenigen Bogen zu überreichen, rücksichtlich deren ich, ohnge-
achtet der vorläufigen Billigung Ihres Inhalts von Seiten Ew. Ex-
cellenz, auf den Ausspruch gefaßt bin, daß sie besser ungedruckt ge-
blieben wären. - Auf jeden Fall werde ich, was mein ferneres Thun
anbetrifft, mich gewissenhaft an die Weisungen zu halten bemühen, wel-
che Ew. Excellenz mir vielleicht in dieser Hinsicht zu ertheilen geruhen
werden. - Mit lebhaftem Verlangen sehe ich dem Augenblick entge-
gen wo es mir vergönnt seyn wird Ew. Excellenz persönlich meinen
Dank für die bisher bewiesene huldvolle Theilnahme an meinen
[41r] wissenschaftlichen Bemühungen abzustatten, und indem ich Höchstdenselben vor-
läufig ein vom Herrn Geheimen OberRegierungsrath Schultz bey meiner
Abreise von Berlin mir übergebenes Schreiben anliegend zu über-
senden mich beehre, verharre ich ehrerbietigst

Ew. Excellenz
unterthänigster Diener
Leopold von Henning.
möge]
zu bethätigen]
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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 28. August 1822. von Henning an Goethe. Z_1822-08-28_l.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-1885-1