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[...] Vielleicht wirst Du Dein Glück in England machen. Aber da denkst Du wieder nach Prag zurückzukehren und Deine Anwesenheit in England geltend machen zu wollen. Ich missbillige dieses Dein Streben nicht, und wünsche Dir von Herzen, dass Du endlich ein ruhiges Ziel im Vaterlande finden möchtest, denn ich glaube, dass Dein stilles gemütliches Wesen sich in der Fremde in die Länge unglücklich finden würde. Ich schliesse wenigstens so nach mir; ich kann mich noch immer nicht in den Gedanken finden, mich als einen Schlesier oder Preussen zu betrachten, es ist mir noch immer, wie wenn ich auf einer Reise begriffen wäre um zunächst wieder ins Vaterland zurückzukehren. [...] [153] [...]

Dass ich meine Ferien in Libochowitz, Prag, Blatten und Horaždiowitz zu meiner und meiner Freunde Zufriedenheit zugebracht habe, versteht sich wohl, nur störte mich hiebei jedesmal das Gefühl des baldigen Abschieds vielleicht auf viele Jahre, vielleicht auf immer. In Breslau angelangt hatte ich vorerst eine Dissertation zu schreiben (De examine physiologico organi visus et systematis cutanei) und zu disputieren um mich als Mitglied der hiesigen medicinischen Facultät zu habilitieren. Dies wurde mit allen Ehren den 22 December abgethan. Aus anderweitigen Missverständnissen liess ich zu wenig Exemplare abdrücken, so dass ich die dringendsten Forderungen mit genauer Noth befriedigen konnte. Sonst hättest Du damals schon einen Brief und ein Exemplar erhalten.

Meine hiesigen Verhältnisse sind bei meiner Gemüthsart friedlich und freundlich, ich bin als Mitglied der hiesigen patriotischen Gesellschaft eingetreten, und habe schon mehrere Vorträge darin gehalten. Mit den eigentlichen Breslauern hab ich noch wenig Bekanntschaft, sie sind etwas unzugänglich, und Reichen zu hofiren ist nicht meine Sache. Uiberhaupt setze ich im Ganzen, besonders wenn man die Fremden abrechnet, Breslau in der Cultur Prag nach. Auch die sogenannte Universitätsfreiheit die sonst in meinen Augen so vieles galt, hat bei mir viel verloren seitdem ich sie in ihrer Realität kennen gelernt. Für einen der in seiner Jugend gelernt hat bescheiden zu seyn, ist es etwas unausstehlich die Suffisance und Unbescheidenheit des unreifen Alters, alle Tage zu sehen, die sich durch Oberflächlichkeit kaum aufwiegen lässt.

Die Ruhe die ich sonst in meinem Geist und Gemüth fand, war dieses Jahr nicht wenig gestört durch das Zusammenleben mit meiner Mutter. Ihre vieljährige Hysterie hat zwar bedeutend nachgelassen, dennoch hat Leidenschaftlichkeit, Misstrauen, Unfähigkeit sich in meine Verhältnisse und Cultur und Gesellschaftsmenschen zu finden, unnöthiges Grollen, verdriessliches Schmollen und dergl. Ungezogenheiten mir manche trübe Stunde gemacht und mich veranlasst ein mir umständliches Commando über diejenige zu führen, der ich sonst als Kind gehorchte. Die Zeit und meine Consequenz hat gesiegt und nun hab ich Frieden im Hause (hac sub rosa).

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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 15. Juli 1824. Purkinje an Johann Evangelista Schmid (Auszug). Z_1824-07-15_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-1CD4-4